Esoterik & andere Lebensvorstellungen: Fluch oder Segen?


Beitrag von Maya
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Beitragsbild von Mikhail Nilov on Pexels.com

Da ich seit meiner Jugend nach Heilungsmöglichkeiten gesucht habe, um die innere Schwere, die Schmerzen, die Lebensunlust in mir aufzulösen, interessierte ich mich für alle mir aufgezeigten Wege um mich herum, von esoterischen, naturheilkundlichen, ökologischen, philosophischen oder anderen spirituellen Wegen. Überall steckte ich meine Nase rein und hoffte auf Linderung meiner Depressionen und (so wie ich heute weiß) meiner komplexen PTBS.

Lange begleiten mich also bereits Situationen und Begegnungen rund um das Thema Weltanschauungen. Unter diese Thematik fällt sehr, sehr viel, daher werden meine hier angeführten Aussagen auch nur meine Erfahrungen damit abdecken. Heute möchte ich vor allem auf einige esoterische, manche nennen es auch spirituelle Begegnungen, Haltungen, Meinungen usw. eingehen. Kurzum, es gab wundervolle Begegnungen und friedvolle Haltungen – aber auch gegenteilige. Da sich, meiner Meinung nach, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen oft sehr nach Linderung sehnen, die ihnen widerfahrenen Schicksale schwer begreifbar und aushaltbar sind – sah und sehe ich eine große Affinität zu bzw. Bereitschaft für esoterische Praktiken und Behandlungen. Aus diesem Grund möchte ich hier eine kritische Stellungnahme zu meinen Erfahrungen verfassen.

Wie immer möchte ich vorab sagen, dass alles um uns herum aus der jeweiligen individuellen Perspektive betrachtet wird, mit der ganz eigenen biografischen Brille aus Erfahrungen. Grundsätzlich kann ich keinerlei Feststellungen dazu machen, ob esoterische Praktiken funktionieren oder nicht. Dies möchte ich mir gar nicht anmaßen. Ich betrachte diese Thematik aus der Perspektive gewaltvoller / übergriffiger Denk- und Verhaltensweisen. Das heißt, werden mit manchen esoterischen o.ä. Aussagen und Haltungen die persönlichen Lebensweisen, Bedürfnisse, Interessen und leidvolle Erfahrungen von Menschen übergangen, heruntergeredet oder sogar verachtungsvoll behandelt?

In meinen Zwanzigern habe ich mich so gut wie überall informiert und belesen, um meine inneren Schmerzen, mein erlebtes Leid zu minimieren und zu heilen. Ich suchte nach Selbsterkenntnis und wollte mich selbst verwirklichen. In alle Richtungen streckte ich meine Fühler aus: unterschiedliche Religionen, Kunst & Kultur, Medizin, Psychologie, Philosophie, Soziologie, Geschichte, Lebensratgeber, fernöstliche Lebensphilosophien, Yoga, Reiki, Pilates, Tai-Chi, Naturheilkunde (…) bis hin zu Karten legen, Hand auflegen, Energieheilung und Chakren Praxis. Viele dieser Inhalte gehören in das Spektrum der Esoterik, vor allem letztere.

Ich konnte mir aus vielem etwas mitnehmen, das mit gut tat: Ich verstand wieso Menschen gewalttätig werden, wie sich dies in einer Familie, Gruppen, Gesellschaft und von Generation zu Generation auswirkt; begriff welche Kategorisierungen und Verfahren in Medizin, Psychologie, Naturheilkunde und Homöopathie verwendet, welche ungefähren Wege der Heilung verfolgt werden und konnte mich besser sehen und fühlen durch die Entspannungsverfahren und zugehörige Philosophien. All dies war möglich – auch mit kleinem Budget. Bücher holte ich aus dem Fundus, vom Sperrmüll oder aus Büchereien.

Aber all das kam nicht auf einmal, sondern nach und nach. Aber eins nach dem anderen.

Dogmatische esoterische und ökologische Lebensvorstellungen

Als ich in einer Stadt, in der ich damals lebte, einen neuen Bekanntenkreis hatte, in dem sich die Menschen für Ähnliches interessierten, erweiterte sich mein Horizont noch weiter. In dieser Zeit wurde mir nach und nach bewusst, dass sich viele dieser Personen bestimmten Behandlungen unterzogen, Veranstaltungen und Messen besuchten und einen Lifestyle darum herum aufbauten. Zu den Zielen gehörten Entspannung, innere Erleichterung, Genesung bei Erkrankungen oder wirklich die Zelebrierung eines „bewussten Lifestyles“. Natürlich wollte ich dies auch ausprobieren! Und so besuchte ich mit einer Freundin hier eine Heilerin, da eine Heilpraktikerin, kaufte Heilsteine für Wasser und Meditation, Tropfen hier und Wässerchen da. Jedes Mal floss viel Geld – eigentlich hätte ich es mir nicht leisten können. Ich sparte wo es nur ging. Eine Behandlung bei der Heilpraktikerin kostete mich 100 bis 200 Euro und eigentlich sollte ich dies bis zu zweimal im Monat machen – Globuli und andere Mittelchen gar nicht mit eingerechnet. Meine Bekannten und meine damalige Freundin konnten sich dies durch ihre Eltern, Familien oder ihre guten Verdienste leisten. Diese Art des Lebens und des Konsums gehörte in diesem Kreis schon fast zum guten Ton. Ich jedoch, versuchte gerade mein Abitur nachzuholen und war durch meine psychische Erkrankung gar nicht dazu fähig nebenbei noch arbeiten zu gehen, um das Geld für derlei Ausgaben zu verdienen. Wenn ich fragte, wie man sich all das leisten solle, erhielt ich ungefähr folgende Antworten: „Gute Dinge haben nun mal ihren Preis!“ oder „Wenn man es sich selbst wert ist, dann arbeitet man halt dafür.“ Hier wurde sehr schnell deutlich, dass ich mit meiner psychischen Beeinträchtigung und meinem niedrigen ökonomischen Status keine esoterische oder ökologische Queen werden würde. 😉

Mit einigen Personen aus diesem Kreise unterhielt ich mich irgendwann über meine psychische Erkrankung – ich hatte zu der Zeit einen Grad der Behinderung von 50 aufgrund der Diagnose „bipolare affektive Störung“ (heute revidiert) und weiterer Diagnosen. Schnell bemerkte ich, dass immer wieder bei der Beschreibung meiner seit vielen Jahren bestehenden Symptomatiken und Lebenseinschränkungen Relativierungen und scheinbar „leichte“ Anleitungen zur Überwindung der Probleme zum Besten gegeben wurden. Dazu muss ich allerdings sagen, dass in dem Kreis niemand (nach ihren eigenen Aussagen) eine psychische Erkrankung hatte, viele Personen, wie beschrieben, gut situiert lebten und nicht unter solchen langjährigen gewaltvollen Erfahrungen litten, wie ich in meiner Kindheit und Jugend. Eine Freundin meinte immer wieder, dass ich mich von den Diagnosen, den Gedanken, dass ich krank sei, und den Medikamenten (Antidepressiva zu der Zeit) vollkommen lösen und das Schöne im Leben in den Fokus nehmen solle. Das versuchte ich. Dass ich manchmal morgens nur heulend aus dem Bett kam und mich eine totale Dunkelheit den Tag über begleitete, während sie fröhlich von der Leichtigkeit ihres Daseins sprach – war für sie nicht wirklich verständlich – betretenes Schweigen und wieder alles positiv sehen! An guten Tagen war das auch alles sehr schön und herzerwärmend! Aber wenn ich merkte, dass ich bereits nach der Hälfte des Tages keine Energie mehr hatte, kaum noch Sprechen konnte und mich eigentlich ins Bett hätte legen müssen – dann kamen immer mehr Selbstvorwürfe, noch mehr als zuvor in meinem Leben. Immer öfter dachte ich, dass ich mich einfach noch mehr anstrengen müsste! Noch mehr das Positive in mein Leben holen müsse! Noch mehr Behandlungen rund um Energie und Naturverbundenheit, Globuli, Steine, Meditationen oder Yoga. Ich schämte mich immer mehr für meine schlechten Tage – die anderen bekamen es doch auch hin mit all diesen Sachen! Ich hielt mich für „zu blöd“, nicht ehrgeizig genug und schlussendlich einfach für minderwertig, da ich irgendwann davon ausging, dass etwas mit mir, also so grundsätzlich als Mensch „nicht stimmte“.

Diese Einstellung begleitete mich einige Jahre. Als ich irgendwann in einer anderen Stadt wohnte, das Abendgymnasium besuchte, immer noch nicht nebenbei arbeiten gehen konnte, damit viel zu wenig Geld hatte um überhaupt noch irgendwas in der Richtung zu machen und wieder in eine psychiatrische Klinik musste, brachen diese Vorstellungen endlich ein.

Ich hörte auf mir Druck zu machen, mir selbst einen esoterischen und ökologischen Aktivismus aufzudrängen, und lernte endlich mehr darüber, was einen Menschen beeinflusst in Charakter- und Gesundheitsbildung während des Lebens. Ich lernte, dass es sehr viele verschiedene Einflussfaktoren gibt, auf die wir zum Teil keinen Einfluss haben. Dazu gehörte einiges aus der Art der Erziehung, Sozialisation, (Schul-)Bildung, Generationsübertragungen, Gruppendynamik, Milieus, sozioökonomischer Einfluss usw. Ich musste lernen, dass ich mich in bestimmten Bereichen meines Leben super doll anstrengen könnte – und doch würde ich sie nicht so erreichen, wie andere (gesunde) Menschen. Ich lernte aber auch, dass ich mir Nischen schaffen kann, mit wenig Stress mein Wissen in meinen Interessengebieten immer mehr ausbauen kann. Vor allem lernte ich, dass ich in mich hineinschauen und ehrlich zu mir und anderen sein muss, um die Muster aufzudecken, die mich innerlich immer wieder krank machen. Ich muss die negativen Gefühle ansehen, sie zulassen, schauen woher sie kommen – und sie nicht verdrängen und mit Positivität übertünchen. Da hilft auch kein Beten, keine Energiebehandlung, keine besondere Kleidung, keine Karten legen, keine Steine, kein Yoga.

Und da komme ich auch schon zu den Problemen, die ich nach all den Jahren mit einigen esoterischen und ökologischen Lifestyle-Haltungen habe.

Immer wieder kam ich mit esoterischen und ökologischen Meinungen und Einstellungen in Kontakt, die genau beschrieben, wie (psychische) Gesundheit hergestellt wird – allgemein und für alle in gleicher Weise. Irgendwann begriff ich, dass diese festen, dogmatischen Aussagen nicht in Einklang zu bringen waren mit meiner Haltung von Vielfältigkeit, Individualität und der Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen, die ich aus z.B. der buddhistischen Philosophie für mich übernommen hatte.

Zu den fast dogmatischen, oberflächlichen Einstellungen, die das Herkunftsmilieu, erfahrene Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen und deren tiefgreifende Folgen zu oft außen vor ließen, kam die starke Ökonomisierung dieses Bereiches. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass einige Bekannte sich ein esoterisches und auch ökologisches Lebensgefühl erkauften. Sehr auf Natürlichkeit und ein ökologisch geführtes Leben bedachte Bekannte verboten sich und ihren Kindern die kleinsten Sachen, jede Form von Zucker, Plastik, sehr starke Kontrolle in Bezug auf Art und Menge des Essens und der Kleidung – dabei erkannte ich bei vielen dieser Bekannten weiterhin Übergriffigkeit und zum Teil sehr verletzende Verhaltensweisen. Immer wieder sah ich, nach langen Zeiten, die ich mit diesen Menschen verbrachte, dass ihre eigenen unbearbeiteten Muster aus Kindheit und Jugend (inneres Kind / verletzende Bewältigungsstrategien aufgrund verdrängter verletzender Verhaltensweisen durch die eigenen Eltern) das Leben ihrer Mitmenschen beeinflussten – Verdrängung von Leid, Missgunst, üble Nachrede, negativer Neid, Süchte jeder Art, Beleidigungen, Ausschluss oder starker Aktivismus. Äußerlich, vor allem auch materiell, wurde das Bild eines modernen, gut ausgestatteten / situierten, gebildeten und fast schon erleuchteten Menschen gezeichnet – aber innerlich sah ich verletzte Ego, Schutzmechanismen und allerlei destruktive und leidbringende Bewältigungsstrategien, die verdrängt und keines Blickes gewürdigt bzw. versteckt werden sollten.

Zusatz:
Wenn ich hier Kritik übe an den Einstellungen einiger Menschen mit ökologischer Lebensführung, dann möchte ich damit nicht die grundsätzliche ökologische Ausrichtung von Leben kritisieren, die sich darauf konzentriert den Planeten, Meere, Artenvielfalt, Klima usw. zu schützen. Dies unterstütze ich sehr! Mir geht es hier alleinig um die Führung eines Lifestyles – der sich in Zusammenhang mit Konsum als elitär, etwas sehr Besonderes, einzig richtiger Weg o.ä. versteht und dabei herablassend ggü. weniger privilegierten Menschen (z.B. Bildungsstand, sozioökonomischer Status, Lebensführung) wirkt.

Neben diesen allumfassenden esoterischen, ökologischen und wie auch immer genannten Lebensgestaltungen stachen noch einige (immer wiederkehrende) Aussagen und Meinungen hervor, aus Mündern unterschiedlicher Menschen, in unterschiedlichen Städten und Situationen, die mir immer wieder die Sprache verschlug, wie man so schön sagt.

„Menschen suchen sich ihr Lebensschicksal vor der Geburt aus!“

Dazu gehört z.B. die in esoterischen Kreisen weit verbreitete Meinung / Philosophie, dass sich ein Mensch sein Lebensschicksal vor seiner Geburt bewusst aussucht! Bereits in den 20ern begegnete mir diese Haltung und ich fragte mich allen Ernstes, was ich wohl durch mein Schicksal hier in diesem Leben lernen wollte. Ich fragte mich, ob meine Eltern keinerlei Verantwortung für ihre gewaltvollen Verhaltensweisen tragen – denn anscheinend hatte ich mir dies ja ganz bewusst vor meiner Geburt (wo auch immer) genauso ausgesucht! Doch umso mehr ich herumkam, umso kritischer wurde ich. Als ich in meinem Studium, in den 30ern, mit Armut, Gewalt, Kindesmissbrauch, Flucht usw. stark konfrontiert wurde, mich weiterhin mit Menschen dieser esoterischen Meinung auseinandersetze, wurde aus einem kritischen Standpunkt irgendwann Wut. Auf die Frage, ob sich ein Kind wirklich den eigenen Missbrauch vor der Geburt ausgesucht hätte – bekam ich wirklich die Antwort, dass dieses Lebewesen durch diese Erfahrung etwas lernen wolle… Karma… Kotz… Würg… Ich erspare Euch weitere Verläufe dieses Gespräches. Vor ein paar Jahren erfuhr ich dann von einer Freundin, dass ihre Mutter bereits seit ihren 30igern an einer schlimmen Krankheit leidet, durch die sie zum Pflegefall wurde und nun frühzeitig sterben wird. Das Schlimme daran ist, dass es eine Erbkrankheit ist und meine Freundin sich nicht hat testen lassen, um festzustellen, ob sie und ihr Kind die gleiche Erkrankung haben. Sie ist nun in den Dreißigern und über ihr hängt das berühmte Damoklesschwert, das sie bei jeder Erkrankung, unerklärlichen Symptomen usw. an diese tödliche Erkrankung erinnert. Ein schweres Schicksal – aber als wenn das nicht genug wäre, sagt ihre Tante (also die Schwester der kranken Mutter) immer wieder, dass die Mutter sich dieses Schicksal so bereits vor ihrer Geburt ausgesucht hätte. Sie liegt seit vielen Jahren in einem Pflegeheim, kann nicht mehr sprechen oder anderweitig kommunizieren – und meiner Freundin steht zu 50 % dasselbe Schicksal bevor. Und diese Tante hat nichts Besseres zu tun, als ihre eigene Unfähigkeit mit diesem Thema bzw. dem gefühlten Leid umzugehen auf die sowieso schon am stärksten Betroffenen abzuladen. Ja, ich spreche von der Unfähigkeit würdevoll mit Leid umzugehen! Denn genau das passiert nicht mit dieser esoterischen Haltung!  Hier wird lediglich ein „guter Grund“ für Leid gesucht – und was gäbe es da leichteres, als die Verantwortung (für was auch immer) den Betroffenen selbst zuzuschieben: Jab, vor der Geburt ausgesucht. Tod, sexueller Missbrauch, Leben im Kriegsgebiet, Verlust von Kindern, Fehlgeburten, physische und psychische Gewalt – alles selbst eingerührt vor der eigenen Geburt. Na da muss sich ja eigentlich niemand mehr beschweren über leidvolle Lebensumstände – oder?!
Nun gut, Jott sei Dank, ist das Ganze dann doch nicht so einfach wie esoterisch gerne dargestellt. Energie hin oder her, Leben vor oder nach dem Tod, kann ja alles sein, will ich gar nicht abstreiten, bin ja nicht allwissend – aber mit der Übertragung der Verantwortung für leidvolle Ereignisse auf die Betroffenen selbst, passiert etwas Fatales! Jegliche soziale Verantwortung für andere Menschen entfällt! Wir können uns eigentlich alle benehmen „wie die Axt im Walde“ und nach Lust und Laune herumpöbeln, verletzen, töten usw. Es scheint ja alles vorherbestimmt und es muss sich auch niemand dafür einsetzen, dass weniger privilegierte Menschen bessere Lebensbedingungen erhalten. Das ist zutiefst unsozial, da die meisten Lebensbedingungen, die uns beeinflussen, von uns nicht kontrollierbar sind! Dazu gehört die Familie, in die wir hineingeboren werden, das Land, der Kontinent, unsere Muttersprache, der Bildungsstand und sozioökonomische Status – der uns unmittelbar umgebenden und uns beeinflussenden Menschen, unsere Genetik, Behinderungen, Unfälle usw.

Letztendlich geht es bei dieser Aussage um Abgabe von Verantwortung für sich selbst und andere: Leid und Schmerz nicht spüren und sehen wollen und schon gar nicht, dass es Dinge im Leben gibt, die unkontrollierbar sind oder größerer Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen.

The Secret – Wünsch Dir was und Deine Träume werden wahr!

Viele haben von diesem Buch, dem Hörbuch oder der Verfilmung gehört und viele Menschen sind von den Inhalten begeistert. Wovon spreche ich?
„The Secret (dt. Das Geheimnis) ist ein von Rhonda Byrne und Paul Harrington für Prime Time Productions produzierter esoterischer Dokumentarfilm, der in Anlehnung an Positives Denken das „Gesetz der Anziehung“ (engl. law of attraction) erstmals einem größeren Publikum vorstellte.“ Quelle: Wikipedia

Nachdem mir damals meine Mutter und meine Schwestern von diesem Buch vorschwärmten, wollte ich natürlich auch wissen, worum es sich dabei genau handelt. Also kaufte ich mir das Hörbuch und auf einer sehr langen Autofahrt vom Norden Deutschlands nach Österreich wollte ich mir dieses Stück nun also zu Gemüte führen. Leider wurde daraus eine regelrechte Qual.

Aber lassen wir kurz noch mal Wikipedia zu Wort kommen:
„Die Kernaussage des Films ist, dass die Gedanken und Gefühle jedes einzelnen Menschen reale Gegebenheiten anziehen bzw. erzeugen. Nach Aussage der im Film Auftretenden hat dieses „Gesetz der Anziehung“ Auswirkungen auf jeglichen Aspekt unseres Seins, wie Gesundheit, zwischenmenschliche Beziehungen, Geld, Beruf usw. Dies geschehe nicht zufällig, sondern mit der Sicherheit und Genauigkeit eines Naturgesetzes.“ Quelle: Wikipedia

Also mal runtergebrochen: Wenn Du nur ganz viel und „richtig“ positiv denkst, dann wird Dir auch nur positives widerfahren! Sende Wünsche in das Universum, also halt solche nach Gesundheit, Frieden, Geld usw. und schwupp-di-wupp wird es sich in deinem Leben wiederfinden – wenn Du denn nur ganz fest daran glaubst! Wenn es nicht funktioniert, hast Du wohl nicht fest genug geglaubt, eine Verneinung in deine Wünsche hineingepackt (ja, ja, das darf man wohl nicht tun) oder andere „Regeln“ des Naturgesetzes missachtet. Und wenn Dir das nicht gelingt ist eins vollkommen klar: Du trägst selbst dafür die Verantwortung, wenn du krank bist, eine Behinderung hast, sich die Genesung hinzieht o.ä.!

Tut mir leid, wenn gerade etwas Sarkasmus durchblitzte, es fällt mir mit den Jahren immer schwerer die tatsächliche Ernsthaftigkeit dieser Lebensphilosophie zu ertragen.

Wie bereits zuvor bei „Menschen suchen sich ihr Lebensschicksal vor der Geburt aus!“ ausgeführt, fühlte ich mich aufgrund der unglaublichen Einseitigkeit, der Verleugnung von sozialen und strukturellen Einflüssen, stark unwohl beim Hören dieses Buches, um es galant auszudrücken. Jeder Satz schrie förmlich danach, dass jeder Mensch selbst an seinem Schicksal, an Erkrankungen, Behinderungen usw. „Schuld“ trägt.

Für Menschen mit Erfolg, guter Gesundheit, gutem Familien- und Freundeskreis usw. mag das alles sehr hübsch klingen – für weniger privilegierte Menschen, wie bereits zuvor beschrieben, ist dies ein reiner Hohn! Es führt zu einer einseitigen Verschiebung von Verantwortung für Lebensumstände und Schicksalsschläge auf die Seiten von Betroffenen selbst. Versteht mich nicht falsch, natürlich trägt jeder Mensch eine Eigenverantwortung für sich selbst! Es gibt Dinge, die ein Mensch selbst beeinflussen kann (abhängig von der Gesundheit, Art der Behinderung, sozioökonomischer Status, Prägung usw.): z.B. können die eigenen Denk- und Verhaltensmuster langfristig durch Training verändert werden, wir können uns im Rahmen unserer gesundheitlichen, sozialen, geografischen und ökonomischen Möglichkeiten weiterbilden, um vielleicht bessere berufliche Chancen zu erhalten und um ein allgemein gesünderes Leben zu leben. Kriege und Folter, Missbrauch und jede andere Form von erfahrener Gewalt und die zugehörigen Auswirkungen auf einen Menschen sind jedoch nicht „einfach“ veränderbar durch Wunschdenken!

Auswirkungen? Ja, auch hier fatal: Betroffene können mit dieser Lebensphilosophie eine überhöhte Selbstverantwortung ausbilden. Zu den Folgen können Druck, Stress und die Verschlechterung der psychischen Verfassung gehören.

Ein sehr modernes Phänomen ist die Entwicklung von Selbstoptimierungsplattformen und –coaches, die auf diesen Zug der uneingeschränkten Selbstverantwortung mit aufspringen! Ein Beispiel dafür ist z.B. die Plattform „Greator – Deine Plattform für persönlichen Wachstum“.

„Greator – Deine Plattform für persönlichen Wachstum“

Wie, gesagt, natürlich ist es zu begrüßen, dass Menschen sich weiterentwickeln wollen. Leider  geht es bei sehr vielen Plattformen, Coaches, Speaker*innen usw. um die berufliche Optimierung – aber nein, sie nennen es persönliche Selbstoptimierung und Weiterentwicklung! Und auf Youtube springen uns dann folgende Titel an: „Nie mehr sprachlos“ / „Wie wir in jedem Gespräch die Wahrheit erkennen“ / „Respekt – wie sie Ansehen bei Freund und Feind gewinnen“ / „Money Mindset – Dein Weg zur finanziellen Freiheit“ usw.

Bestimmt kennt so gut wie jeder Mensch hier in Deutschland mindestens ein Video aus dieser vielfältigen Pracht. Ich war mal so frei und habe mich dann bei Greator für einen Probemonat angemeldet, ja ich bin einfach immer sehr interessiert daran, wie die Menschen denn nun andere Menschen weiterentwickeln wollen. Und siehe da, ja, sie boten eine tolle Vielfalt an Tipps zur Optimierung meiner Zeitplanung, worauf ich meine Gedanken ausrichten sollte usw. Alles bewusst steuerbar – wir alle sind zu krassen Gewinner*innen geboren! Mh, oder auch nicht. Denn auf einmal erhielt ich auch persönliche Anrufe aus diesem Team und ich war so frei und unterhielt mich lang und ausgiebig mit dem netten Menschen am anderen Ende der Leitung. Warum ich denn meine Selbstständigkeit noch nicht umgesetzt hätte, die mir so vorschwebt, wurde ich gefragt. Na ja, also erzählte ich ganz ehrlich von meiner Grunderkrankung, zu viel Stress löst depressive Episoden aus, ich habe viel mit meinem kleinen Kind zu tun, da Corona dann gerade aufkam usw. – Stille. Nett wurde mir dann gesagt, dass sie mich in ein paar Monaten wieder anrufen würden, vllt. hätte sich ja dann etwas geändert. Ok – ja ich glaube sie hoffte, ich wäre ich dann etwas flüssiger, d.h. finanziell besser aufgestellt, um die nötigen Mittel für eine Greator-Speaker*innen-Ausbildung, ein Greator-Coaching oder eines der gehypten Greator-Events bezahlen zu können. Ich habe den Probemonat dann gekündigt.

Auch wenn die Videos, die Auftritte der Motivationscoaches usw. gut gemacht sind, bleiben sie für mich leider sehr oberflächlich. Bestimmt kann man etwas für sich daraus mitnehmen! Aber eine heilsame Methode für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sehe ich darin sicher nicht – zu einseitig, zu sehr auf bewusste Gedankenkontrolle fokussiert, ohne unbewusste Muster in Körper und Psyche mit einzubeziehen.

Ein ebenfalls von psychischen Beeinträchtigungen betroffener Bekannter erzählte mir vor kurzem, dass er bereits das 4. Gespräch mit einer Greator-Mitarbeiterin geführt habe und er nun überlegt sechstausend Euro für eine Ausbildung bei Greator auf den Tisch zu packen. Er wolle richtig was aus sich machen und nun endlich mal Erfolg haben!

Wenn Menschen dieses Geld übrig haben und es Ihnen wirklich was bringt – ok. Leider habe ich mich mit Menschen unterhalten, die durch sogenannte Selbstoptimierung sehr viel Geld verloren haben – und bis heute blieb der erhoffte berufliche, finanzielle und gesundheitliche „Erfolg“ aus.

last but not least

Leider leben wir in einem Zeitalter, in dem Selbstoptimierung und starke Selbstverantwortung bei gleichzeitiger Verschleierung von Einflussfaktoren durch gesellschaftliche Strukturen einen immer höheren Stellenwert einnehmen. In dessen Folge werden die Faktoren, die z.B. zu Bildungsungleichheit, Armut und schlechterer Gesundheit führen, nicht stark genug beleuchtet und eine Entwicklung sozialer Gerechtigkeit vernachlässigt bzw. versäumt – auf struktureller, d.h. z.B. auf politischer und institutioneller, und individueller Ebene!

Ob esoterischer oder ökologischer Lifestyle, ob Selbstoptimierung oder Umgang mit Leid, wir alle versuchen letztendlich einfach nur klar zu kommen. Aber „selbst klar kommen“ – auf Kosten von anderen Menschen, ihnen etwas aufdrängen, sie manipulieren, herabsetzen, mis- oder verachten, sanktionieren oder aber indem wir vorhandene schwierige Lebensbedingungen, Leid, Schmerz und Krankheiten verleugnen oder einfach wegsehen, kann kein sozialer und friedvoller Weg sein.

Mir persönlich hat es letztendlich viele Lebenserfahrungen beschert, als ich mich all diesen Strömungen öffnete und von ihnen lernen wollte. Nachhaltige Heilung und Genesung habe ich aber dabei nicht erfahren. Mir haben letztendlich andere Dinge geholfen, auch wenn ich aus all meinen hier beschriebenen Erfahrungen kleine Sachen für mich mitgenommen habe, z.B. Gedanken immer mal wieder auf Positives richten, Entspannung des Geistes durch Ablenkung, Yoga, Meditation usw. Aber ich fühlte mich mit meiner psychischen Erkrankung und den damit einhergehenden Beeinträchtigungen im Leben auch oft ausgegrenzt, nicht zugehörig aufgrund fehlender Kompetenzen und finanzieller Mittel. Dies führte zum Teil sogar zu einer Verschlechterung meiner psychischen Verfassung.

Neben den kleinen Dingen, die ich aus diesen Erfahrungen in mein Leben integriert habe, besteht mein ganz persönlicher Genesungsweg ansonsten eher aus einer beständigen Reflektion meines Innenlebens, was mir gerade gut tut und was nicht; welche Menschen mir gut tun und welche nicht, welche destruktiven, leidbringenden, affektiven, unbewussten Muster ich habe, die ich bewusst nicht steuern kann und durch Therapien angehe; wirklich Hinsehen, Schmerzen spüren und schauen was sie mir sagen wollen; keine festen Vorstellungen von meinem Leben und mir zu entwickeln, sondern dynamisch zu bleiben; offen und unvoreingenommen zu sein ggü. allen Menschen, sie ernst nehmen und auf ihre und meine Bedürfnisse und Interessen zu achten… … … …

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. lachmitmaren sagt:

    Liebe Maya, ich kann deinen Frust und deinen Ärger verstehen. Tatsächlich habe ich einige der von dir beschriebenen Dinge früher auch ausprobiert, mit ähnlichen Ergebnissen …, und kann es auch nicht ausstehen, wenn mir jemand sagt, ich müsste doch nur dies oder jenes tun, positiv denken, und dann wäre ich gesund. Und wenn ich das nicht hin bekäme, hätte ich es eben offensichtlich „falsch“ gemacht.

    Seit einigen Jahren beschäftige ich mich viel mit Esoterik, und das, was du als beständige Reflexion deines Innenlebens bezeichnest, hat viel damit zu tun. Esoterik ist immer ein innerer Weg. Und ein Weg, den einem letztlich niemand abnehmen oder erleichtern kann. Die von dir als „esoterisch“ beschriebenen Angebote haben mit eigentlicher Esoterik nichts zu tun. Es sind im Grunde „Shopping-Angebote“, die zum Konsum verführen wollen, eher das Gegenteil von echter Esoterik..
    Esoterik „verlangt“ Übernahme der Verantwortung für sich selbst, für die eigenen Handlungen und Gedanken. Es ist wie gesagt ein innerer Weg, der sich selbstverständlich auch die eigenen „Schatten“ anschaut. Das schließt Mitgefühl oder Empathie für andere Menschen keineswegs aus. Ganz im Gegenteil. Aber es übernimmt nicht die Verantwortung für das „Seelenleben“ der anderen Person, denn das kann diese nur selbst. Anzunehmen, man wüsste, was für andere Menschen das Beste ist, hat fast immer etwas Übergriffiges und gerade nichts Esoterisches.
    Ich hoffe, dass du diesen Kommentar jetzt nicht als übergriffig empfindest. Es ging mir nur darum, dass zum Begriff und Inhalt von Esoterik sehr viele Missverständnisse bestehen, die aus meiner Sicht Vieles erschweren.
    Herzliche Grüße von Maren

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    1. maya_von_traumaleben sagt:

      Liebe Maren,
      danke für Deine Ausführungen! Ja, mir ist bewusst, dass es ein sehr breites Spektrum dazu gibt, was unter Esoterik verstanden und gelebt wird. Ich weiß nicht, ob es dazu wirklich eine „wirkliche“ Definition gibt. Philosophien und Lebensweisheiten leben ja auch durch die Menschen, die sie anwenden und natürlich dann auch durch die Art der Auslebung. Ich weiß nur, dass auch die Menschen, mit den im Artikel beschriebenen Meinungen und Haltungen, ihre Sichtweise und ihre Art der esoterischen Praxis als richtig ansehen. Daher möchte ich hier keine Art als mehr oder wenig esoterisch bezeichnen – ich wollte vor allem den Lifestyle rund um gelebte esoterische Praxis aus meiner Erfahrung heraus beschreiben. Wie im Artikel beschrieben, habe ich auch positive Erfahrungen damit gemacht und einige Sachen bis heute in mein Leben integriert.
      Leider gehören die „Shopping-Angebote“ zu einem großen Teil zu meinen Erfahrungen mit esoterisch lebenden Menschen – nicht allen, ganz klar, aber schon einigen.
      Die von dir beschriebene Haltung der Übernahme von Verantwortung, Mitgefühl, Empathie usw. habe ich für mich eher im Bereich der buddhistischen Philosophien und Weltanschauungen gefunden – jedoch gibt es auch hier eine Konsumorientierung und verschiedenste Auslegungen und Dogmen zur Erreichung von sogenannter Erleuchtung usw.
      Ich empfinde es wirklich als sehr schwer etwas ohne Perspektivenvielfalt zu betrachten… aber das macht es oft auch sehr mühselig.
      Letztendlich – egal wie wir es alle nennen mögen – ist, glaube ich, in jeder Philosophie etwas von Verantwortung, Mitgefühl, Empathie usw. zu finden…

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  2. Paleica sagt:

    hallo maya, ein spannender und wie ich finde sehr sensibler post zu diesem thema. ich kann einiges davon sehr gut nachvollziehen. eine freundin von mir ist sehr im sivananda yoga verwurzelt und hat mir auch im brustton der überzeugung damals in zusammenhang mit der flüchtlingskrise sowas gesagt wie dass die seelen sich eben aussuchen, wo sie geboren werden, in welches land, in welche familien. das ist dann einfach der punkt, an dem ich eine diskussion abbrechen muss. für mich ist das gleichzusetzen mit der absolution in der religion, mit der ich dasselbe problem habe. die verantwortung auf die opfer zu schieben, damit haben menschen eine sehr, sehr lange geschichte. aber vielleicht funktioniert empathie mit derartigen schicksalen bei „gesunden“ menschen anders. vielleicht reicht das einfühlen nicht, wenn man nicht selbst sehr tiefe abgründe erlebt hat, ich weiß es nicht. jedenfalls habe ich in meinen letzten supervisionsgruppen, die ich gemeinsam mit lebens- und sozialberaterInnen hatte, wieder gemerkt, warum ich von all diesen ausbildungen, die einfacher und kürzer und schneller wären dennoch den weg in die psychotherapie gewählt habe. weil es für mich nunmal letztlich doch der einzige weg ist, wo sich behandlung wirklich vom dogma diagnostiziert und eben die unterschiede anerkannt werden…

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  3. Angela Nowicki sagt:

    Wünschen, ja … da kann ich nur sagen: armes Universum! Ganz simpel gesagt: Wenn ich mir morgen Regen wünsche, mein Nachbar hingegen Sonnenschein, dann hat das Universum aber ein Problem.
    Und die, die behaupten, man könne sich allein durch sein Denken die Welt so erschaffen, wie sie einem gefällt, die haben anscheinend noch nie vom Unbewussten gehört. Es war Freud, der der Menschheit die „dritte große Kränkung“ nach Kopernikus und Darwin zufügte, dass wir nämlich noch nicht mal Herr im eigenen Hause sind.
    Du scheinst einen klaren Geist zu haben, da du am Ende all diese falschen Heilsversprechen durchschaut hast. Es ist noch nicht mal immer Shopping-Mentalität, es ist oft auch „bloß“ ein geistiger Dünkel, hinter dem ich in vielen Fällen pure Angst vermute: Angst, sich selbst und dem eigenen Schatten ins Gesicht zu sehen. Wer weiß, welch verletzte Seelen sich hinter diesen Masken verstecken …

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