TRIAGE, DIVI & Menschen mit Behinderungen


Beitrag von Maya
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Photo by Sharon McCutcheon on Pexels.com

Betrachten wir mal die neuesten Ereignisse, die eigentlich gar nicht so neu sind.

Ein internes Schreiben des Klinikums Tuttlingen an Pflegeeinrichtungen mit dem Inhalt der genauen Reflektion bzgl. der tatsächlich notwendigen Weiterleitung von Menschen an Intensivstationen nach Betrachtung von Vorerkrankungen, Behinderungen usw. lässt die Gemüter hochkochen. Verständlich!

Links:

Morgenpost, SRW, Südkurier

Warum?

AbilityWatch („Teil einer modernen Behindertenbewegung in Deutschland. Als Aktionsplattform wollen wir Politik kritisch begleiten, Fragen aufwerfen und das soziale Modell von Behinderung etablieren.“) kritisiert am 20.12.21:

„Mit blankem Entsetzen haben wir das Schreiben des Tuttlinger Kreis-Klinikums und des Landratsamts in Tuttlingen an Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe zur Kenntnis genommen. In diesem werden die Betreiber unverblümt dazu aufgefordert dafür zu sorgen, dass alte, behinderte oder erkrankte Personen im Falle einer Corona-Infektion nicht mehr behandelt werden. Wie befürchtet wird nun die Triage in den nicht-klinischen Bereich verlagert und bestimmte Personengruppen zum…“

Siehe: AbilityWatch

Nun können politische und mediale Vertreter*innen all dies dementieren und von Fürsorge und gesamtgesellschaftlichen Ressourcen sprechen – eins bleibt:

das von der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) am 23.11.2021 in einer neuen Version (3) herausgebrachte Dokument mit dem Namen:

Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie.

2020 (PDF) / 2021 (PDF) / Oder hier über die Website der DIVI

Ja genau, es geht also um viel mehr, als um ein internes Schreiben des Klinikums Tuttlingen!

Es geht um die Ressourcenzuteilung und die Diskriminierung von Menschen mit vorliegenden Erkrankungen und Behinderungen – die doch bereits besteht – und nicht erst seit dem tuttlinger Schreiben.

Schauen wir uns das genau an.

Am 14.04.2020 (also am Anfang der Pandemie in Deutschland) brachte die DIVI bereits das erste Schreiben heraus, das einen Rahmen für die Zuteilung von Behandlungen in Notfällen vorsieht. Die nun ausgeführten Inhalte sind ebenfalls in der gerade nochmal überarbeiteten und erschienen Fassung vom 23.11.2021 enthalten.

Bereits in dieser Version wird auf Seite 6 unter Nummer 3.2.1. „Entscheidungen über die Aufnahme auf die Intensivstation“ beschrieben, dass eine „Einschätzung der individuellen Erfolgsaussicht des Patienten, also der Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben.“ vorgenommen werden soll.

So weit so gut. Aber WIE soll diese nun vorgenommen werden?

Hier lesen wir dann weiter:

In einer Gesamtschau sollen vielmehr alle wesentlichen die Erfolgsaussicht beeinflussenden Faktoren (aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten, allgemeiner Gesundheitsstatus) geprüft werden.

Schauen wir genauer hin und sehen uns mal an, was unter dem „allgemeinen Gesundheitszustand“ verstanden wird bzw. wer den hier höher und wer niedriger rangiert in der sogenannten „Überlebenseinschätzung“.

Auf Seite 13 und 14 können wir den Skalierungsverweis erlesen:

Allgemeiner Gesundheitsstatus – Erhöhte Gebrechlichkeit (z.B. Clinical Frailty Scale CFS) – Clinical Frailty Scale CFS oder ECOG

AHA, ok, nach dem CFS und ECOG wird nun also eingeschätzt welche Menschen (im Zusammenhang mit anderen Einschätzungsfaktoren) eher eine intensivmedizinische Behandlung erhalten.

Die Klinische Frailty Skala (CFS) sieht eine Einschätzung des vorliegenden Gesundheitszustandes eines Menschen in 9 Kategorien vor.

siehe DIVI PDF

1 (Sehr fit) bis 9 (Terminal erkrankt) Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen können hier dann ungefähr ab Stufe 3, eher ab Stufe 4 einsteigen. Dazu gehören sowohl Menschen mit physischen als auch Menschen mit psychischen Behinderungen. Menschen mit schweren Behinderungen und Hilfeleistungen im Alltag finden wir erst bei Stufe 5 aufwärts.

Das bedeutet nichts anderes, als dass dieser ableistische Score Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen einen schlechteren Allgemeiner Gesundheitsstatus – Erhöhte Gebrechlichkeit (Seite 13) und Allg. prämorbider Gesundheitsstatus – Allgemeinzustandsscore (Seite 14) zuschreibt aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung – mit einer tendenziell geringen Chance auf intensivmedizinische Betreuung als bei „fitten“ Menschen ohne Behinderung.

Ähnlich verhält es sich beim Karnofsky-Index (ECOG).

Ability Watch hat dann damals schnell reagiert mit dem weiter oben aufgeführten Statement und den aufgestellten Forderungen:

„Falls es trotz aller zu unternehmenden Bemühungen nicht gelingt alle Patient*innen mit entsprechendem Bedarf und medizinischer Indikation mit lebensrettenden und lebenserhaltenden Behandlungen zu versorgen, muss der Gesetzgeber ein Parlamentsgesetz verabschieden, dass für Patienten und Behandlungsteams eine rechtssichere Entscheidungs- und Behandlungssituation herstellt.

Dieses Parlamentsgesetz muss sicherstellen, dass die Entscheidungskriterien keinen unmittelbar oder mittelbar diskriminierenden Charakter haben und dass für Patient*innen Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen.“

Was bleibt?

Ein sehr ungutes Gefühl bei solchen internen Schreiben, wie dem des Klinikums Tuttlingen an Pflegeeinrichtungen. Denn es geht nicht nur um dieses eine Schreiben. Es geht um ableistische Strukturen, darum, dass diese in wissenschaftlichen Erhebungsinstrumenten zu finden sind, darum, dass die Würde und Behandlung eines Menschen nicht von einer Scala bestimmt werden sollte!

Was tun?

Den Gesundheitssektor reformieren, Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge und -pflege von wirtschaftlichem Gewinnstreben abkoppeln und so solide und menschenwürdige Behandlungsmöglichkeiten schaffen!

Es kann nicht sein, dass Menschen, wie Herr Spahn u. ä. Millionen von Euro verdienen durch Deals innerhalb des Gesundheitswesens, dass sich Abgeordnete noch einen Coronazuschuss gewähren und Krankenhausangestellte nicht wissen, wie sie ihre Patenten würdevoll versorgen sollen!

Es gibt Wege!

Alle Menschen, die sagen, dass es diese nicht gibt oder diese nur schwer umzusetzen sind, sind eher Teil des Problems als Teil konstruktiver Lösungsmöglichkeiten!

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