Sprache schafft Realität: Sichtbarkeit psychischer Gewalt


Beitrag von Maya
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Beitragsbild von Andrea Piacquadio on Pexels.com

Der Slogan »Sprache schafft Realität« wird nun schon eine ganze Weile im Zusammenhang mit Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache verwendet. Dabei handelt es sich um den Appell weniger männliche Formulierungen in Sätzen zu verwenden und dafür entweder weibliche mitzunennen oder gleich ganz und allumfassend auf das Gendersternchen (oder ähnliches) umzusteigen.

Ohne viel Gelaber hier mal ein Video, produziert von vielen Menschen rund um Pinkstinks Germany, das dies auf den Punkt bringt:

Danke an die Produzent*innen! Tolles Video!

Und was hat das Ganze nun mit Trauma, Leben mit Trauma, Entwicklungstrauma bzw. komplexer PTBS zu tun?

Zum einen handelt es sich bei Sexismus um eine Diskriminierungsform. Menschen mit dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen und Behinderungen leiden auch sehr oft unter Diskriminierung. Dabei handelt es sich um Ableismus, also der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen.

Und da sind wir auch schon mittendrin in der Sprach- und Wörter-Debatte.

Warum werden bestimmte Wörter genutzt? Und warum finden manche Menschen das kacke?

Wenn Menschen darüber sprechen, dass sie „mitgemeint sein wollen“, dass „behindert sein“ echt nicht nett formuliert ist oder die Thematiken an sich zu wenig Anklang finden in der breiten Gesellschaft – dann sind das nicht einfach nur irgendwelche Insta-Meinungen. Das sind hochkomplexe Themen, die für viele Menschen eine krasse Tragweite haben!

Du bist ein Mensch, den diese Sachen nicht betreffen? Dann erstmal Glückwunsch zu Deinen Privilegien! Wenn Du mit diesen bewusst umgehst, sie reflektierst und in Interaktionen sensibel behandelst, bist Du auf einem richtig guten Weg gewalt- und diskriminierungsarm zu agieren!
Aber dann wird es auch die Menschen geben, denen es egal ist, ob sie oder andere immer nur mit der männlichen Form angesprochen werden oder die nicht von z.B. lebensbestimmenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Armut, Sucht oder Gewalt flankiert werden – ja, das ist schön für diese Menschen.

Aber das ist eine riesige rosarote Blase, in der nicht betroffene Menschen da leben!

Nicht betroffene Menschen müssen die Inhalte von diskriminierenden Denk- und Verhaltensweisen zum einen nicht ertragen und nicht mit den Auswirkungen und Folgen leben!

Das bedeutet, dass Menschen ohne solche Einschränkungen in diesem Sinne privilegiert sind – in ihrem persönlichen Empfinden, in ihrem sozialen Nahraum, in Bildungseinrichtungen, im Arbeitsleben, beim Jobcenter oder Arbeitsamt, im Gesundheitssystem oder in staatlichen Institutionen. Denn in all diesen sind Diskriminierungsstrukturen verwoben, die ein Ungleichgewicht in der Verteilung von Ressourcen und damit Privilegien mit sich bringen. Wir sprechen hier also von sozialer und struktureller Diskriminierung.

Und wenn wir darüber sprechen, dann sollten wir auch darüber sprechen, warum Meinungen, wie z.B. dass „das doch alles nicht so schlimm ist“, „für die Behinderten doch schon so viel gemacht wird“ oder „psychische Kranke ja schon irgendwie seltsam sind“ so weit verbreitet sind!

Eine sehr schlimme Übergriffigkeit und Diskriminierung habe ich erlebt, als ich das Abendgymnasium besuchte. Dort gab es (natürlich) auch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, wie mich. Als eine Person mit psychischer Beeinträchtigung immer mal wieder fehlte und dann beim Wiedererscheinen nach Unterlagen zum verpassten Stoff fragte, änderte sich das vorher positive Stimmungsbild in der Klasse sehr schnell. Nach und nach wurde diese Person gemieden, komisch angeschaut und immer weniger Menschen wollten Unterlagen zum Kopieren herausgeben. Dies ging so weit, dass eine Klassenversammlung einberufen wurde, in der allen ernstes darüber debattiert wurde, warum psychisch kranke Menschen gesunden Menschen an einem Abendgymnasium die Plätze wegnehmen!

Ich bin fast vom Glauben abgefallen!

Auch wenn ich während der gesamten vorherigen Zeit immer im Gespräch mit den Menschen stand und in einer wertschätzenden Weise um Sensibilisierung und Aufklärung zum Leben mit gesundheitlichen Einschränkungen bemüht war – dies war einfach zu viel!  Also platzte mir der Kragen! Nachdem ich irgendwas von Meinungen, wie die vor 100 Jahren, von mir gab EMPÖRTEN sich viele Menschen in dieser Klasse über meine Wortwahl! Natürlich wurde sich über mich beschwert, ich musste zur Schulleiterin, und in den folgenden Jahren wurde auch ich angefeindet, gedemütigt und gemieden. Die Person, die gesagt hat, dass psychisch kranke Menschen gesunden Menschen hier die Plätze wegnehmen würden, war weiterhin vollkommen integriert in den Klassenverband!

Was sagt uns dieses Beispiel?

Es zeigt auf, dass das Ansprechen von Diskriminierung und Gewalt von vielen Menschen, immer noch, als inakzeptabel eingestuft wird – und ihre ganz persönlichen Folgen sowieso. Es zeigt auf, dass sprachlicher Ausdruck dazu führen kann, dass Diskriminierung verstärkt wird! Es zeigt auf, dass Menschen, die gewalt- und diskriminierungsvolle Inhalte aufzeigen, nicht gerne gesehen werden – auch in einem anscheinend so fortschrittlichen Land wie Deutschland!

Doch umso mehr Menschen durch soziale Sanktionen, wie z.B. Ignorieren oder Bagatellisieren, zum Schweigen gebracht werden, umso mehr wird eine »Normalität« erzeugt ohne Sichtbarkeit von Menschen mit z.B. psychischen Beeinträchtigungen – und ohne Sichtbarkeit der Ursachen und Folgen!

Aber wie laut sein? Wie sich wehren?

Diskriminierung macht etwas mit Menschen!
Es trifft!
Es schmerzt!
Es macht mundtot!

Jeder Mensch reagiert anders. Manche gehen in die Offensive und manche in die Defensive! Ich bin ein sehr offensiv handelnder Mensch, aber auch bei mir gab und gibt es immer wieder Zeiten, in denen ich in meinem Bett liege und nicht weiß wie ich weiter machen soll, kraft- und mutlos. Und das nicht aufgrund meiner Beeinträchtigung an sich – sondern aufgrund der sozialen und strukturellen Diskriminierung, aufgrund der verletzenden Worte von anderen Menschen.

Aufgrund einer Freundin, die sagt, man bräuchte sich doch nur des eigenen Willens bedienen und schon wäre alles so, wie man es halt möchte. Oder aufgrund der Aussage einer anderen Person, dass Tabletten doch nicht helfen und man sich da auch reinsteigern kann. „Einfach mal den Blickwinkel ändern.“ Oder wieder einer anderen Person, die sagt, man solle sich doch mal nicht so bemitleiden – einfach nur weil über die psychische Beeinträchtigung gesprochen wird! Oder wenn die eigene Familie meint, sie würden doch am meisten unter der psychischen Beeinträchtigung der betroffenen Person leiden. Oder wenn ein*e Arbeitgeber*in sagt, sie*er hätte einen nicht mal zum Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn die Erkrankung bekannt gewesen wäre! Weil ich mir bei jeder Bewerbung genau überlegen muss, ob ich meinen Grad der Behinderung angebe oder nicht. Oder Oder Oder Oder Oder…

Weil Betroffene immer und immer wieder gegen Wände laufen, sie gemieden und / oder nicht ernst genommen werden und mit ihren Gefühlen und Bedürfnisse Luft sind – für viele nicht betroffene und in diesem Sinne privilegierte Menschen.

Hier möchte ich kurz anmerken, dass ich mir über meine privilegierte Stellung in der Welt
auch immer wieder Gedanken mache und diese reflektiere.
Nur falls da jemand auf die Idee kommt ich würde das Ganze einseitig betrachten.

Und was können wir aus all diesen Sachen nun schlussfolgern?

Komplexe PTBS, Ansprache und Wortwahl

Diese Herabwürdigungen geschehen ebenfalls in Bezug auf Ansprache und Wortwahl beim Thema komplexer PTBS.

Einige ältere Menschen, haben mir z.B. immer wieder zu verstehen gegeben, dass hier und jetzt in dieser Zeit doch niemand ein Trauma erlebt! Die Menschen heute, hier in Deutschland, hätten doch nicht mal einen Krieg miterlebt – zuletzt 2020 gehört.

Hier habe ich bereits darüber geschrieben, dass komplexe PTBS an sich immer noch sehr unbekannt sind und zum großen Teil einseitig und falsch verstanden werden. Auch, dass erst ab 2022 eine offizielle Diagnose dafür im ICD (Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen) erscheint, also man könnte sagen „offiziell“ anerkannt wird. Aber auch dieses Klassifikationsschema ist sehr allgemein gehalten und führt nur die „extremsten“ Ursachen und Folgen von komplexen PTBS auf.

Daher ist es für mich wichtig darüber zu sprechen, endlich darüber zu schreiben und Dinge zu BENENNEN!

Immer wieder werde ich in etwa Folgendes gefragt: „Es bestehen bei mir zwar schon lange psychische Probleme mit unterschiedlichsten Diagnosen und die Eltern waren jetzt auch nicht immer die nettesten, aber so ist das doch überall – deshalb ist es doch nicht gleich ein Trauma, oder?“ Oder Statements, wie z.B. „Also ich finde es nicht so gut, wenn man hier von Täter*innen spricht.“

Hier soll sich bitte niemand persönlich angesprochen fühlen!
Dies sind Fragen und Aussagen, die ich wirklich oft lese und höre.
Dies zeigt vor allem eins auf: die geringe gesellschaftliche Aufklärung hierzu.


Zur Frage nach dem Bestehen von Trauma kann ich immer nur sagen:

Wenn Gewalt, vor allem emotionale Gewalt, in der Kindheit und Jugend in deiner Familie über viele Jahre immer und immer wieder vorkamen und du dich durch dein psychisches Erleben über einen langen Zeitraum beeinträchtigt fühlst, kann es sehr gut sein, dass Du eine komplexe PTBS mit oder ohne Traumafolgestörungen ausgebildet hast, die niemals erkannt wurde!

Bitte konsultiere hierzu Mediziner*innen deines Vertrauens.

Denn neben anerkannteren Formen von Gewalt, wie physische und sexuelle Gewalt, führen auch die normalisierten Vorstellungen von emotionaler Gewalt, wie z.B. langanhaltendes Ignorieren oder Übergehen der Bedürfnisse und Interessen des Kindes und Jugendlichen, zu schwerwiegenden Folgen. Besonders wenn diese über viele Jahre nicht als solche erkannt werden – im individuellen und im gesellschaftlichen Kontext!!! Beschwerden und Einschränkungen im Leben, die mit schweren körperlichen Misshandlungen und sexuellen Übergriffen in Zusammenhang stehen, werden dagegen häufiger als komplexen PTBS erkannt. Aber auch hier gibt es eine hohe Dunkelziffer.

Nicht besonders hilfreich ist hier die Beschreibung im ICD, dass es sich bei den Ursachen um Ereignisse oder einer Reihe von Ereignissen mit extrem bedrohlicher oder schrecklicher Natur handelt.

Dies verklärt die Realität, denn psychische Gewalt, eine Hauptursache langanhaltender psychischer Einschränkungen im Verlauf des Lebens, und die damit zusammenhängenden Denk- und Handlungsweisen werden zu einem großen Teil in Gesellschaften als »normale Umgangsweisen« angesehen.

Menschen, die psychisch gewalttätig sind, aber auch Menschen, die psychische Gewalt über einen langen Zeitraum erfahren haben, verstehen oft nicht, dass Depressionen, Persönlichkeitsstörungen usw. zu einem sehr großen Teil Folgen von psychischer Gewalt sind!

Das zeigt sich auch immer wieder im privaten und medialen Bereich:
Überlegt mal, wie oft finden in eurem Umfeld normalisierte Übergriffe statt?

  • Kinder dürfen doch nicht mitbestimmen, die müssen folgen!
  • Frauen werden doch überhaupt nicht mehr wie Objekte behandelt und beruflich herabgesetzt im Vergleich zu Männern!
  • »Jungen« sollen nicht weinen. / »Mädchen« sollen sich brav verhalten.
  • Wenn du etwas nicht schnell genug lernst, erhältst du halt eine schlechte Note!
  • Babys und Kleinkinder sollte man nicht zu sehr verwöhnen (oder gar auch mal weinen lassen)!
  • Du musst in deinem Job immer besseres und mehr leisten, um die nächste Vertragsverlängerung zu sichern? Keine Schwäche zeigen?
  • Menschen sollten sich schon bisschen schick hermachen! Oh schau mal die*der! Wie sieht denn das aus mit den Haaren und den Klamotten!
  • Also mit der*m werde ich mich nicht treffen! Die*er sieht ja auch wie ein*e (…)!

Das könnte ich ewig so weiterführen. Irgendwas davon haben wir doch alle schon gesehen, gehört, selbst erlebt oder auch selbst gedacht, gesagt und getan.

Und genau hier fängt das Problem an:
„Das ist doch nicht so schlimm!“
„Du bist ja empfindlich!“
„Ja so ist das nun mal!“
„Das ist doch normal!“
(…)

Wenn etwas nicht als »Gewalt« bezeichnet wird, dann ist das schon »OK« so.
Dann können wir das alle weiter ausführen und dulden.
Wir greifen nicht ein oder lassen Dinge über uns ergehen –
„Weil das nun mal so ist!“

Da sage ich immer mal wieder ganz provokant: „Hätten alle Menschen, die Adolf Hitler und Gleichgesinnte umgaben, diesen in deren Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter immer wieder und wieder gesagt, dass das kacke ist was sie da denken und sagen und auch warum, und hätte das soziale Umfeld ein wertschätzenden, achtsamen, liebe- und vor allem würdevollen Umgang miteinander auch vorgelebt, wären die umliegenden Strukturen genau davon geprägt gewesen – dann wäre es wahrscheinlich nicht zu einer Machtergreifung durch ihn im 3. Reich gekommen!

Aber wenn das sprichwörtliche Kind in den Brunnen gefallen ist, dann können viele laut sein, die vorher leise waren!

Ich meine damit: Gewalt geht uns alle an!

Wir sind zwar über die letzten Jahrzehnte mehr und mehr sensibilisiert bzgl. physischer und sexueller Gewalt – jedoch nicht gegenüber psychischer Gewalt! Dabei stellt die psychische Übergriffigkeit und Gewalt die Grundlage für alle anderen Formen von Gewalt dar! Wenn wir uns unwohl fühlen durch einen anderen Menschen oder vorherrschende Strukturen, d.h. wir uns in Bedrängnis, bedroht, gefangen, unfrei o.ä. fühlen, dann werden wir in uns Muster ausbilden, um dies zu kompensieren. Wir reagieren auf erlebte psychische Gewalt mit der Ausbildung von Mustern, die oftmals auch gewaltvolle Denk- und Verhaltensweisen uns selbst und anderen ggü. beinhalten. Diese bilden wiederum die Grundlage für die Ausbildung und Beibehaltung von gewaltvollen und diskriminierenden Strukturen, die von Menschen aufrecht erhalten werden, sowie physischer, sexueller und materieller Gewalt.

Daher ist es wichtig, dass wir alle unser Augenmerk auf normalisierte psychische Übergriffigkeit und Gewalt richten, denn die Auswirkungen dieser sind überall auf der Welt zu sehen.

Hier kannst du dir dazu eine wirklich tolle Reportage von 3sat im Format Scobel ansehen!

Danke M. Molli für das Hochladen.
Danke an 3sat und Scobel für diese tolle Dokumentation!

Und die Quintessenz des Ganzen?

Damit psychische Gewalt sichtbar wird, ist es wichtig, diese in Sprache sichtbar zu machen!

Lasst uns anfangen uns selbst zu reflektieren bzgl. unserer eigenen gewaltvollen Denk- und Handlungsweisen!
Lasst uns psychische Übergriffigkeit und Gewalt ansprechen, wenn wir sie sehen!
Lasst uns dieses Thema in die Mitte der Gesellschaft holen – in Familien und Freundeskreisen darüber sprechen.

Darüber, wie wir dies bei uns selbst abbauen und bei anderen ansprechen können.

Eine allgemeine Sensibilisierung gegenüber psychisch gewaltvollem Denken und Handeln wird dem Abbau aller Gewalt- und Diskriminierungsformen zugutekommen!

Also lasst uns alle etwas dafür tun – denn jeder Mensch kann jetzt oder irgendwann betroffen sein!

Damit schließe ich hier erstmal und werde demnächst noch darüber berichten, warum ich in Bezug auf psychische Gewalt von »Täter*innen« spreche und wie wir uns alle zum Teil nicht davon frei machen können selbst Täter*innen zu sein.

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