
Beitrag von Maya
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Wir alle nutzen die unterschiedlichsten Bewältigungsstrategien – ja, auch die Menschen, die (offiziell) als gesund gelten…
Wir haben Bewältigungsstrategien, die gut für uns sind, z.B. Sport treiben, wenn wir zu lange gesessen haben; Erholung und Chillen nach einem stressigen Tag, Obst und Gemüse statt Fastfood, ein Freundesabend mit Spielen, lustige Filme, über die wir herzzerreißend lachen können…
Aber wir alle haben auch destruktive Bewältigungsstrategien. Damit meine ich Strategien, die unserem Wohlbefinden und unserer sozialen Eingebundenheit langfristig schaden; die inneren Druck langfristig nicht abbauen – einfach, weil wir unpassende Strategien zur Lösung unserer Probleme, unserer Bedürfnisse nutzen…
– extremen Sport machen, um den überwältigenden Stress von der Arbeit nicht spüren zu müssen
– ständiges Essen, um Einsamkeit oder Ablehnung nicht zu spüren
– ständige Online-Spiele, um sich erfolgreich und selbstwirksam zu fühlen
– ständiges Arbeiten, um nicht zu spüren, dass zu Hause niemand auf einen wartet
– (…)
Versteht mich nicht falsch – all diese Strategien können in einem gesunden Maße sehr gut für uns sein. Es geht dabei vielmehr um das „WARUM wir gewisse Dinge tun“.
Wenn wir Sport machen, weil unser Körper gerade die sportliche Aktivität für das Herz-Kreislauf-System usw. benötigt; wenn wir Essen, weil unser Körper gerade Nahrungsmittel braucht; wenn wir spielen, weil wir gerade eine kognitive Herausforderung, ein strategisches und herausforderndes Denken brauchen usw. – ist unserem Körper damit sehr gutgetan.
Wenn wir allerdings mit unseren Handlungen negative Gefühle (d.h. als unangenehm empfundene Gefühle) immer wieder unterdrücken wollen oder aufgrund von Unwissenheit immer wieder uns selbst oder andere schädigende Handlungen durchführen, können wir z.B. schnell in destruktive Gewohnheiten bis hin zu einer Sucht abgleiten. Ich möchte hier vor allem auf ersteres eingehen. Das Nicht-Fühlen-Wollen von dem, was da wirklich in uns los ist, kann fatale Folgen für uns und unsere Mitmenschen haben.
So trinken sich tausende Menschen jährlich tot durch den dauerhaften Konsum von Alkohol – weil Sie nicht fühlen wollen / können.
So brechen viele Familien und Freundschaften auseinander – weil sie nicht fühlen wollen / können.
So essen Tausende alles Mögliche in sich hinein – weil Sie nicht fühlen wollen / können.
So arbeiten viele Menschen sich in ein Burnout hinein – weil Sie nicht fühlen wollen / können.
(…)
Aber es geht nicht nur um das Nicht-Fühlen-Wollen, sondern auch darum, ob wir gelernt haben, gut mit uns, unserer Psyche und unserem Körper umzugehen. Es geht um Gewohnheiten. Es geht um unser soziales Umfeld. Es geht dabei um so vieles.
Alleine in meinem Leben und meinem sozialen Umfeld der letzten ca. dreißig Jahre gab es viele Menschen, die aufgrund des Nicht-Fühlen-Wollens, des Nicht-Wissen-Wie-Man-Es-Anders-Machen-Kann immer wieder tiefe Krisen erlebt oder ihr ganzes Leben zerstört haben.
Viele haben Alkohol in extremen Mengen konsumiert. Wahrscheinlich nicht nur um zu kompensieren und Probleme und Gefühle zu vergessen, sondern auch weil es irgendwann einfach Gewohnheit war und viele Menschen in ihrem Umfeld dies ebenso getan haben. Andere haben so viel online gespielt, dass sie ihre Arbeit verloren haben oder zwei Jahre länger zur Schule gehen mussten. Eine Person macht so extrem Sport, dass sie oft kurz vor der Magersucht stand oder bereits drin war. Das ganze Leben dreht sich um Sport und viele andere Bedürfnisse und Wünsche werden dabei vernachlässigt. Wieder andere Personen schauen so extrem Fern, dass nicht mal eine einfache Konversation ohne Fernsehgedudel möglich ist. Und dann noch die Personen, deren Hauptkompensation über Ablenkung durch soziale Kontakte verläuft – stundenlange Telefonate, ein Treffen nach dem anderen – mit depressiven Symptomen, sobald dies wegfällt.
Aber ich betrachtete in all den Jahren nicht nur mein Umfeld, sondern zuallererst immer mich selbst – in einem Semester im Studium der Sozialen Arbeit habe ich mich intensiv mit Suchtproblematiken, deren Entstehung usw. auseinandergesetzt: also mit substanzgebundenen Suchtformen (Alkohol, Tabak, Tabletten, Kokain, LSD usw.) und verhaltensgebundenen Suchtformen, z. B. Glücksspielsucht (Gambling), Kaufsucht (Oniomanie), Ess- und Essbrechsucht (Bulimie), Magersucht (Anorexie) usw.
In diesem Zuge habe ich mich auch intensiv mit meiner Familiengeschichte, meinen eigenen Denk- und Verhaltensweisen und mit meinen Bewältigungsstrategien auseinandergesetzt. Ich weiß z. B. von mir selbst, dass ich stark suchtgefährdet bin und muss mich bei allem, was ich viel und lange tue, immer wieder hinterfragen, warum ich dies gerade tue. Dient es noch dem eigentlichen Zweck oder kompensiere ich schon wieder Gefühle, die ich nicht fühlen möchte? Bereits als Jugendliche ahnte ich dies, als ich mit meinem Gameboy wochenlang, täglich stundenlang das neue Pokemonspiel meiner Schwester spielte. Immer mehr und mehr. Ich hatte keinen Hunger mehr und machte auch sonst kaum noch was. Als meine Schwester dann meinen Spielstand einfach löschte, bin ich förmlich ausgerastet. Ich war außer mir, aufgelöst, als wenn meine Welt zusammenbricht. Seit dem habe ich nie wieder für längere Zeit ein Spiel gespielt. Zu groß war meine Angst so süchtig zu werden, wie andere Menschen in meiner Familie. Aber letztendlich ging es gar nicht um das Spielen. Ich bin einfach hochgradig gefährdet. Ich komme aus einer Familie mit so vielen suchtkranken Menschen, dass es wohl einem Wunder nahegekommen wäre, hätte mich dies verschont. Aber ich wollte den Gründen für meine Neigung diesbezüglich bereits sehr früh auf den Grund gehen. Ich spürte immer wieder sehr schnell, dass ich nach allem möglichen süchtig werden könnte: Sport, Arbeit, Hobbys usw. Ich tauch(t)e dabei so stark in die jeweilige Welt ab, dass ich fast nichts anderes mehr spüren muss(te). Und das war der Schlüssel, da war meine Achillessehne: Nichts mehr spüren von dem, was in meinem Körper sonst noch so abging und abgeht. Die Einsamkeit, das Gefühl nicht gewollt zu sein, nichts wert zu sein … Mit den Jahren kam dann noch hinzu, dass ich meine Wünsche und Träume nur sehr mühselig oder gar nicht erfüllen konnte aufgrund meiner komplexen PTBS und den Traumafolgestörungen, während viele andere Menschen ihre beruflichen Karrieren, Familienplanung usw. voranbrachten. Das heißt, es kam eine grundlegende Enttäuschung hinzu – nicht das erreichen zu können, was ich mir für mich und meine Lebensgestaltung selbst wünschte.
Ich bin der Überzeugung, dass es sehr wichtig ist, zuallererst ehrlich zu sich selbst zu sein: Ich werde mein Leben lang gefährdet sein. Immer dann, wenn ich die Trauer, Ängste und Enttäuschung in mir selbst nicht sehen möchte und wenn ich ein soziales Umfeld um mich aufrechterhalte, das mich schlecht behandelt.
Das Aushalten ist immer wieder das Schwerste, das Schmerzhafteste, was ich in meinem Leben durchmachen muss. Aus diesem Grund mache ich meine Therapie, denn, der Ehrlichkeit geschuldet: Es wird sonst niemals anders werden, egal wie sehr ich meine Bewältigungsstrategien wechsle und mich anstrenge. Außerdem lerne ich gerade etwas zur Emotionsregulation. Wenn Du das letzte Jahr hier auf TRAUMALEBEN mitverfolgt hast, dann weißt Du bestimmt, dass ich im letzten Jahr viele emotionale Täler durchwandert habe. Aus einigen, dachte ich, würde ich nicht wieder herauskommen. Aber auch wenn es immer wieder schwer ist, ist es weiter wichtig zu spüren, was da in mir los ist – aber vllt. etwas regulierter. Daher erprobe ich seit einiger Zeit folgende Methode:
- Ich mache mir bewusst, dass ich alleine für die Veränderung meiner momentan vorhandenen Gefühle verantwortlich bin.
- Ich sage mir, dass die Gefühle da sein dürfen, dass sie eine grundsätzliche Daseinsberechtigung haben und beobachte sie.
- Ich fange an, bewusst zu atmen und stelle mir vor, wie die Gefühle nach und nach ausgeatmet werden.
- Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf die Situation vor den Emotionen: Was hat meine Gefühle ausgelöst? Was gab es für Trigger? Was will ich vllt. nicht sehen?
- Ich setze mich aktiv mit der auslösenden Situation auseinander: Ich bearbeite es in der Therapie (EMDR), ich mache mir ein Portfolio, ich denke mir alternative Reaktionen auf die Situationen aus und spiele sie immer wieder im Kopf durch… usw….
Danke für die Gedankenanstöße an:
https://www.selbstbewusstsein-staerken.net/emotionen-kontrollieren/
Was mir in den letzten Jahren geholfen hat, mit unangenehmen Emotionen umzugehen, im Sinne konstruktiver Bewältigungsstrategien, waren ansonsten z. B.: Reflexion über die tatsächlichen Ursachen meiner Gefühle; Konsequenzen aus den Rückschlüssen ziehen (z.B. Freundschaften, die mir nicht guttun, kündigen); Nachsichtigkeit und liebevoller Umgang mit mir selbst ; Therapie; Aktivität statt Passivität – Joggen, Freunde treffen; Biografien oder Lebensweisen von anderen Menschen ansehen (Video) oder darüber lesen (Blogs, Bücher)… Zu meinen seit einigen Jahren aktiv eingesetzten Bewältigungsstrategien in schwer aushaltbaren emotionalen Zuständen gehören das Schauen von Serien und Filmen, das Abtauchen in diese Welten und das emotionale Mitschwingen bei lustigen, mutigen Geschichten, aber auch das Lesen solcher Geschichten, außerdem die digitale Arbeit an sozialen Projekten.
Ich könnte noch viel zu diesem Thema schreiben, aber letztendlich glaube ich, egal was wir tun – einfach stehenzubleiben und zu sagen „So bin ich halt!“ ist für uns und unser soziales Umfeld unter Umständen sehr schmerzhaft. Indem wir destruktive Bewältigungsstrategien weiterführen, verletzen wir uns selbst und unsere Mitmenschen immer weiter.
Aber ich kann es auch verstehen, wenn Menschen nicht hinsehen wollen und damit können, nicht fühlen wollen, was da wirklich alles in Ihnen los ist. Es ist schwer und kann sehr angsteinflößend sein. Den Preis dafür bezahlen wir jedoch alle: Einsamkeit, verletzende Denk- und Verhaltensweisen, eine von Ängsten und Süchten geprägte Gesellschaft, normalisierte emotionale Übergriffigkeit, Verurteilung, Gewalt und Diskriminierung.
Letztendlich entscheide ich mich – entscheiden wir alle uns mit dem Hin- oder Wegsehen, mit dem Zulassen oder Nichtzulassen unserer Gefühle und mit der Art unserer Bewältigungsstrategien für jeweils eine Art von Leben. Und für jede Entscheidung gibt es Gründe…
Und daher bleibt zum Schluss nur eine Frage – für mich – für Dich – für uns:
Wie will ich leben?
Wie wollen wir leben?
Hey Maya,
ich sehe mich in deinem Beitrag so stark wieder und kann vieles so gut nachempfinden. Vor allem di Problematik mit der Emotionsregulation und dem „nicht-fühlen-wollen“. Als Kind habe ich bereits viel Musik gehört, mir in meinem Kopf eine Welt erbaut, in der ich sicher und glücklich war. Ich habe zeitweise nur noch in dieser Welt gelebt. Kopfhörer rein, Musik voll aufdrehen und meine Gedankenwelt ging an. Eine sowohl positive als auch negative Bewältigungsstrategie. Positiv, weil sie mir eine Auszeit aus meinem Leben verschafft hat, mich die Wirklichkeit besser hat aushalten/verdrängen lassen, mir positive Momente gegeben hat. Negativ, weil verdrängen nur eine Zeit lang funktioniert, weil ich diese Wunschwelt bis heute nicht aus meinem Kopf bekomme und immer noch stückweit in ihr Lebe, wieder in sie hineinrutsche, wenn es schwer wird.
Eine Sache sehe ich allerdings anders und möchte sie dir, falls ich darf (du liest den Kommentar ja vorher und könntest ihn ablehnen) mitteilen.
Ich finde nicht, dass Menschen alleine für ihre Gefühle verantwortlich sind. Eventuell habe ich dich falsch verstanden oder etwas überlesen, ich dissoziiere beim Lesen teilweise. Natürlich bin ich dafür verantwortlich, wie ich mit Emotionen umgehe, allerdings sind wir in einer Gesellschaft für unsere Mitmenschen auch verantwortlich. Wenn ich einen Menschen absichtlich schlecht behandele und somit negative Gefühle in diesem Menschen auslöse- dann bin ich in in diesem Moment für die Gefühle verantwortlich und nicht die Person selbst. Vielleicht meintest du auch den Umgang mit diesen Gefühlen..
Ich wünsche dir allerdings sehr viel Glück mit deiner Methode und hoffe, dass du damit deine Ziele erreichst/erreichen konntest.
Liebe Grüße und einen wunderschönen Tag dir.
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Liebe NEMA,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Schön, dass Du Dich in einigen Sachen wiederfinden konntest. Auch wenn Bewältigungsstrategien höchst individuell sind, scheint es rund um die (langfristigen) positiven oder negativen Auswirkungen ähnliche Aspekte zu geben… Und ich finde auch, dass Menschen in Ihrem Leben und Lebensumfeld nicht alleine verantwortlich sind für das, was da in Ihnen geschieht. Bezüglich einer Verhütung und Prävention von übergriffigen, verletzenden Verhaltensweisen habe ich mir auch schon viele Gedanken gemacht, so wie Du anscheinend auch. Es ist ein hochkomplexes und interessantes Thema. Im Artikel „Das Ding mit der sozialen Verantwortung und dem Leid“ und im Artikel „#Trauma #Corona #GeorgeFloyd & der gemeinsame Nenner“ habe ich versucht meine Gedanken dazu niederzuschreiben…
Hier in diesem Artikel beziehst Du Dich bestimmt auf die Methode zu Emotionsregulation. Der erste Satz ist – so aus dem Zusammenhang von Gesellschaft usw. genommen – wirklich sehr hart. Für mich bedeutet dieser Satz – nur im Zusammenhang mit einer überwältigenden Gefühlslage – jedoch, dass ich in diesem Moment des „Chaos“ alleine verantwortlich bin für eine Veränderung der Gefühle in meinem Inneren. Es müsste also dann eher heißen:
Ich mache mir bewusst, dass ich alleine für die Veränderung meiner momentan vorhandenen Gefühle verantwortlich bin…
Vielen Dank für Deine erhellenden Anmerkungen dazu. Ich werde den Satz oben im Artikel nochmal ändern, da es mir sehr wichtig ist den richtigen Fokus zu setzen und die Worte im gemeinten Zusammenhang sehen möchte.
Also DANKE!
Alles Liebe, Maya
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