Alle paar Monate bekomme ich einen Anruf.
Einen Anruf von dem Menschen, den ich in meiner Kindheit und Jugend mit am meisten liebte: mein Großvater. Er ist alt, fast 90, zeigt erste Anzeichen von Demenz oder ähnlichem.
In den ersten Momenten freue ich mich immer seine altgewohnte Stimme zu hören. In mir kommt ein warmes Gefühl hoch. Dieses Gefühl, wenn Du jemanden schon sehr lange kennst, auf eine wohltuende Art vertraut bist mit dieser Person.
Doch seit einigen Jahren bleibt dieses warme Gefühl nicht lange. Es endet eigentlich immer damit, dass ich zitternd und weinend auflege.
Heute war es wieder soweit.
15:22 Uhr sehe ich die Nummer auf dem Display. Kurz überlege ich, ob ich bereit bin für dieses Gespräch. Aber dann ist die Sehnsucht nach seiner Stimme doch so groß und die Befürchtung, dass es doch ein Anruf sein könnte, in dem mir der Tod eines Großelternteils mitgeteilt werden möchte. Also gehe ich ran.
Liebreizendes Gesäusel, wie es denn mir und dem Urenkelchen geht – kurz unterbrochen von dem immer gleichen kurzen Vorwurf, dass ich mich ja nicht melden würde und der Enttäuschung darüber, dass ich keine Arbeit habe (aufgrund meiner Erkrankung – was jedoch immer gekonnt überhört wird). Aber alles noch safe, alles gut. Ich liebe diese ersten Minuten, sie spiegeln die Sonnenseite meiner Kindheit, das was mich über Kindheit und Jugend getragen hat.
Die Worte, wie ich mir denn die Zukunft vorstelle, jetzt da sie alt sind und bald sterben werden, leitet immer wieder die düstere zweite Hälft des Gesprächs ein. Damit meint mein Großvater, ob ich denn zu seiner Beerdigung kommen würde, dass es beschämend wäre, wenn ich mich dort nicht mit meinem Vater und seiner Frau familiär und in liebevoller Einheit zeigen würde. Natürlich bleibt es nicht dabei, es geht dann noch darum, dass ich mich doch bei meinem Vater und seiner Frau melden und entschuldigen solle! Ich sei schließlich die Jüngere!
Dass die dritte Frau meines Vaters mich über viele Jahre genauso systematisch psychisch misshandelt hat, wie der zweite Mann meiner Mutter oder zum Teil auch die zweite Frau meines Vaters und dieser seinen Frauen hörig zur Seite stand, steht dabei jedoch nie zur Debatte. All die schlimmen Vorfälle in unserer Familie (von denen meine Großeltern vor ein paar Jahren auch noch wussten und genauso betroffen waren wie ich, gehören nicht mehr zu ihren Erinnerungen – Verdrängung lässt grüßen), sie sind einfach vergessen – bei Ihnen. Die Ausschlüsse vom Familientisch bei Feierlichkeiten (ja klar – ich saß immer gerne bei Freunden oder entfernten Bekannten, weit weg von meinen Großeltern und meinem Vater), das ganze Lästern über meine „seltsame“ Erkrankung und meinen Lebensstil (Studium und Erkrankung / Behinderung wurden als Faulheit dargestellt usw.), dass ich nie allein etwas mit meinem Vater machen durfte (selbst zwei Konzertkarten für ihn und mich zu einem seiner Geburtstage wurden abgelehnt), er uns nie besuchte in meiner Wohnung, seine Frau Familienmitglieder*innen mit absurden Lügen auf mich hetzte, so dass sich immer wieder schlimme familiäre Streitereien entwickelten, dass sie mich immer als unfähig vor allen offen darstellte (sogar wenn ich einen Kuchen zu einer Familienfeier mitbrachte), dass sie Geschenke von mir für meine Großeltern, die per Post kamen, verschwinden ließ (sie wohnen zusammen auf einem Grundstück), dass sie alle nicht zu meinen Abschlussfeiern kamen, allein weil sie es nicht wollte und damit verbot (Eifersucht, eigentlich immer das Hauptproblem, da sie dort evtl. meine Mutter hätte treffen können) (…) (…) (…) all die Rückfahrten von ihrem Haus, in denen ich weinend im Auto saß, tagelang nicht klar kam, oder durch die sich sogar neue depressive Episoden einleiteten… … … Aber ich selbst wollte es ja auch viele Jahre gar nicht wahrhaben – was diese Frau für eine Person war bzw. ist. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass nach der psychischen Malträtier in meiner Kindheit durch meine Stiefeltern und die Vernachlässigung meiner leiblichen Eltern – sowas wirklich nochmal passieren sollte. Aber was wundere ich mich, denn zweite und dritte Ehefrau waren über sehr viele Jahre Freundinnen – na ja, bis die eine dann die 3. Ehefrau wurde. Also letztendlich waren sie sich schon immer sehr ähnlich. Nur hatte die zweite Ehefrau meines Vaters auch nette Eigenschaften und behandelte mich über die Jahre auch immer mal wieder als Teil der Familie – wenn der Alkohol und ihre Probleme dies nicht überschatteten. Die durchgehende, jahrelange, eiskalte Art und Manipulation der dritten Ehefrau stellte jedoch alles andere in den Schatten.
So lange wollte ich es nicht wahr haben. Aber irgendwann konnte ich die Augen nicht mehr verschließen – vor ihren Verhaltensweisen und ihren menschenverachtenden Meinungen. Ich konnte nicht mehr darüber hinwegsehen, dass sie sich z.B. mit ekelerregtem Gesicht von mir weg drehte, wenn ich sie zur Begrüßung umarmen wollte, bis sie mich irgendwann gar nicht mehr begrüßte. Dass sie alle Harz-4-Empfänger*innen am liebsten sterilisiert gesehen hätte, der NPD ihren größten Respekt aussprach, dass nach ihrer Aussage „die flüchtenden Familien ruhig im Mittelmeer ersaufen könnten, samt Frauen und Kindern“ u. v. m. Als sie behauptete, dass der Vater meines Kindes (den sie immer genauso wie mich schlimm denunzierte in der ganzen Familie) pädophil sei, weil er sich mit unserem Kind beim Planschbecken spielend beschäftigte, mein Vater und meine Großeltern dies für bare Münze nahmen und mir durch die Blume den Umgang mit dem Vater meines Kindes verbieten wollten, musste ich Konsequenzen ziehen. Ich fiel wegen der neuen Lügen wieder in eine Depression und musste nun entscheiden, wie ich weiterleben wollte. Der Vater meines Kindes und ich waren bei der Polizei und eine Polizistin riet uns dazu die Frau meines Vaters wegen Verleumdung anzuzeigen, da anscheinend nicht abzusehen sei, was sie noch alles behaupten würde. Der Vater meines Kindes entschied sich dagegen, er hatte Angst vor dem Stress und Trouble. Und ich entschied mich gegen den Kontakt mit der Frau meines Vaters – mein Vater schrie mich daraufhin am Telefon an, als ich ihm all dies mitteilte – er war nicht bereit ohne sie Kontakt zu mir zu haben und letztendlich stellte sich heraus, meine Großeltern auch nicht.
Seit dem bekomme ich Anrufe, von meinem Großvater, in denen er mich bittet, mir eigentlich schon fast befielt, mich zu entschuldigen bei der Frau meines Vaters und meinem Vater, natürlich.
Ich weiß um die Not hinter den Anrufen, dass er mich vermisst, aber auch dass es ihnen vor der ganzen Familie peinlich ist. Aber er und meine Oma wollen mich auch nicht außerhalb ihres Gehöftes treffen. Jeder Versuch meinerseits sich mit ihnen in einem Café oder zum Eis essen zu verabreden, wurde verneint. Mittlerweile kann mein Opa auch kein Auto mehr fahren. Und ihr Grundstück darf ich nur betreten, wenn ich mich bei der Frau meines Vaters und diesem, wie gesagt, gebührlich entschuldige. Aber dazu bin ich nicht bereit. Ich wüsste nicht mal wofür – auch wenn ich mir jahrelang mein Hirn zermartert habe. Die krankhafte Eifersucht dieser Frau, die Macht- und Sensationsgier, die Kaltblütigkeit – ich werde dies nicht ändern können, nicht mit mehr Aushalten, nicht mir mehr Güte und Verständnis, nicht mit tausend Gesprächen.
Ich bin nicht mehr bereit für all die psychischen Misshandlungen, nicht mehr bereit mehrere Male im Jahr in depressive Episoden und Retraumatisierung zu fallen aufgrund des Kontaktes mit der Frau meines Vaters, die mich immer wieder an die Gewalt durch frühere Stiefeltern erinnert – und all den Duldungen der Gewalt durch meine leiblichen Elternteile. Warum sie diese dulden steht auf einem ganz anderen Blatt Papier, das ich hier und heute nicht zur Hand nehmen möchte, was mir aber durchaus bewusst und bekannt ist.
Nun bin ich kein Teil dieser Familie mehr. Vor vielen Jahren brach auf ähnliche Weise der Kontakt zwischen meinem Vater und seiner anderen Tochter ab und vor ein paar Jahren nun auch der zu mir. So ist das wohl, wenn herrschsüchtige Frauen niemand anderen neben sich und ihrem Mann dulden – außer die gut betuchten Eltern des Mannes…
Aber für meine Großeltern, für meinen Opi, tut es mir unendlich leid. Sie beide haben sich in meiner Kindheit und Jugend immer sehr um mich gekümmert. Ich habe die schönste Zeit meiner Kindheit und Jugend bei Ihnen verbracht. Durch sie konnte ich die Gewalt in der Familie meiner Mutter und in der meines Vaters überleben.
Sie gaben mir Halt und Sicherheit.
Und wenn mein Opa dann zu mir sagt, dass ich ihm den Gefallen doch tun könne, nach allem was Omi und er für mich getan hätten, dann weine ich vor Trauer und Ohnmacht. Denn ich liebe sie sehr, habe ihnen so viel zu verdanken, und doch kann ich ihnen nicht helfen, ihnen diesen Gefallen nicht tun – wie sehr ich mir auch wünsche, dass sie einen schönen Lebensabend in und mit ihrer Familie verleben könnten. Früher hätte ich ihnen diesen Gefallen getan und ich habe es auch immer wieder nur für sie getan – immer wieder hinzufahren und die Demütigungen über mich ergehen zu lassen. Aber seit dem ich Mama bin, habe ich eine Verantwortung, seit der Geburt meines Kindes 2015 fühlte ich dies in jeder Faser in mir: ich muss für mein Kind da sein, aufpassen, dass diesem nicht das Gleiche widerfährt wie mir damals. Außerdem wurde mir mit den Jahren bewusst, dass ich eine psychische Genesung unter diesen Umständen nicht erreichen würde. Und all das ließ nur einen Schluss zu: gesünder leben heißt, einige Ursachen für meine schlechte psychische Gesundheit aus meinem Leben entfernen. Und so musste ich in den letzten 5 Jahren Entscheidungen treffen, die ich davor nicht getroffen hätte.
Und über all diese und viele anderen Erfahrungen hinweg bleiben nun nur zwei Menschen am Telefon, die sich lieben und doch keine Zeit mehr miteinander verbringen (können).
Ich habe es akzeptiert, habe mich innerlich und auch per Telefon und E-Mail für all ihre Liebe bedankt, die sie mir geschenkt haben. Aber unsere gemeinsame Zeit scheint vorbei zu sein, auch wenn sie neben meinem Kind immer die wichtigsten Menschen in meinem Leben waren. Und das ist für mich gerade in Ordnung. Denn all die schönen Erinnerungen bleiben mir und ich liebe es daran zu denken. Was sie mir gegeben haben begleitet mich sowieso jeden Tag. Wenn ich mein Kind morgens in den Kindergarten bringe und immer wieder der Ohrwurm „Hoch auf dem gelben Wagen“ aus meinem Munde tönt, wenn ich Blumen und Blumenkränze sehe, wenn ein Erdbeerkuchen mich in die Küche meiner Großmutter zurückzieht, wenn ich meinem Kind bei allen Quassel-Anfällen gespannt zuhöre, so wie sie mir damals… … …
Aber hier und jetzt scheint unsere gemeinsame Zeit vorbei zu sein. Ich habe das akzeptiert soweit es geht und kann die meiste Zeit auch gut damit leben. Außer an Tagen wie diesen, wenn er anruft, mein Opa. Wenn ich neben meiner ganzen Liebe für ihn – durch all seine Vorwürfe und Verleugnungen der erfahrenen Gewalt eigentlich doch nur seinen und meinen Schmerz spüre und wieder weinend auflegen muss und in ein tiefes Loch falle. Wenn die Dunkelheit zurückkommt.
Ich spüre, dass ich die Tür heute wieder ganz gut schließen kann, in dem ich mir dies hier alles bewusst mache. Indem ich schreibe.
Wenn ich mich beruhigt habe und darüber nachgrübele, wie ich etwas an dieser Situation ändern könnte, fällt mir letztendlich doch immer nur eins ein: Es ist wie schon mal hier auf TRAUMALEBEN beschrieben – ein Dilemma: Die Entscheidung für meine Großeltern und damit auch für meinen Vater und für seine Frau würde meine psychische Gesundheit und die Betreuung für mein Kind stark gefährden. Also geht es um eine Entscheidung: Entweder Herkunftsfamilie oder Gesundheit und mein Kind. Und ich habe mich für meine Gesundheit entschieden. Und dann bin ich wieder mit mir im Reinen.
Aber mein Kind-Ich, ein kleiner Teil in mir, spürt den Schmerz weiter, wenn ich hinblicke. Und manche Schmerzen vergehen vllt. auch nicht. Daher muss ich woanders hinblicken.
Oh ich fühle mit dir.
Ich habe es immer gut mit meinem alkoholkranken Opa gehabt. Ich liebte ihn sehr. Er war gut. Leider starb er zu früh. Ich kann nicht mehr mit ihm sprechen. Und diese Familientreffen, in denen ich die Schuldige für alles war, die Partygesprächsbrücke, Juckte nie wen. Ich bleibe ihnen mitlerweile fern.
LikeGefällt 1 Person
So mutig von dir diese Entscheidung für deine Gesundheit, für dein Kind. So gut, deine Liebe zu den Großeltern zu bewahren und trotzdem dich selbst nicht damit zu korrumpieren und trotzdem den Schmerz über den Kontaktabbruch zuzulassen. Ich lese so viel Liebe, Schmerz und Klarheit in deinen Worten und die tiefe Verbindung zu dem Großvater der Kindheit. Sie ist ein Schatz, den du in dir trägst, der dir nicht mehr verloren geht. Für die Enttäuschung deines Großvaters im Heute bist du nicht verantwortlich, deine Großeltern haben ihre Entscheidung getroffen und du die deine. Ich lese, du stehst zu dir und deiner Entscheidung und ich wünsche dir Kraft, egal wann du dich für etwas entscheidest: steh in Liebe zu dir. Das ist das beste, was du für dich und dein Wachstum tun kannst. Ich sende dir ein Meer von Blumen an denen deine Sinne sich erfreuen können. Liebe Grüße Sylvia
LikeGefällt 2 Personen
Vielen Dank Sylvia…
LikeLike