Das Ding mit der sozialen Verantwortung und dem Leid


Beitrag von Maya
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Beitragsbild von cottonbro on Pexels.com

Eine der Ursachen aller physischen und psychischen Schmerzen durch Gewalt und Diskriminierung in meiner Kindheit, Jugend und meinem Erwachsenenalter war und ist das fehlende soziale Verantwortungsbewusstsein im Denken und Handeln von Leid verursachenden Menschen – und das bis heute.

Ich lege die Konzentration dabei bewusst auf Verantwortung, nicht auf eine Analyse der Beweggründe oder ähnliches. Ich rede auch nicht von Schuld, denn ich mag dieses Wort nicht.
Die Worte „soziale Verantwortung“ gehen Beziehungsverhältnisse neutraler an.

Es bedeutet, dass es in der Beziehung zwischen z.B. Eltern und Kind, aber auch zwischen Lehrer*innen und Kind oder zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen in unseren Kulturkreisen oft Machtgefälle gibt, mit denen eine Verantwortung einhergeht, die das individuelle und soziale Wohlbefinden entscheidend mitprägen.

Die Eltern haben gegenüber dem Kind die Autorität Dinge zu erlauben oder zu verbieten, ohne, dass sich das Kind wirklich nachhaltig wehren kann (es gibt Ausnahmen und Diskurse zum Thema „Autorität nehmen statt haben“, auf die ich hier jetzt jedoch nicht eingehen möchte). Die Eltern haben ein von der Natur gegebenes Verantwortungsgefühl dafür, dass sich ihre Kinder gesund entwickeln und groß werden. Wenn das Verantwortungsgefühl nicht da oder gestört ist, kann es z.B. sein, dass auch bei den Eltern Trauma und in dessen Folge Beeinträchtigungen vorliegen.
Wie diese Verantwortung letztendlich bestmöglich umgesetzt wird, ist nicht festgeschrieben. Es kann das Beste für die Kinder sein, nur bei einem Elternteil oder bei einer Pflegefamilie aufzuwachsen. Die Varianten sind vielfältig. Verantwortungsvolle Entscheidungen beziehen sich hier auf den Fokus der Entscheidungsfindung. Oft liegt eben nicht die individuelle psychische und physische Gesundheit des Kindes im Fokus, sondern z.B. ausschließlich die beste Konstellation für Eltern, Großeltern oder eine Institution. Diese werden dann als „das Beste“ für das Kind verbucht. Und da, wo Selbstreflektion, Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer, Ideen, Vorstellungen oder die Ressourcen fehlen oder nicht gesehen werden (wollen), fängt fehlende Verantwortung für das Wohl des Kindes an.

So wachsen Kinder in Familien, Institutionen und einer Gesellschaft mit gewalt- und diskriminierungsreichen Denk- und Verhaltensweisen auf und leiden viele Jahre unter physischen und/oder psychischen Folgen.

Es gibt viele verschiedene Formen von normalisierter Gewalt und Diskriminierung, die mehr oder weniger als solche erkannt werden und bekannt sind. Viele dieser „nicht offensichtlichen“ Gewalt- und Diskriminierungsformen bringen nachhaltige psychische Beeinträchtigungen für Betroffene mit sich – gelten in unserer Gesellschaft jedoch oftmals als „normale Denk- und Verhaltensweisen“.

Dazu gehört z.B. die geschlechtsspezifische Zuteilung von Spielzeug, Interessengebieten, Berufsgruppen usw. Auch wenn Menschen sich mit diesen nicht identifizieren können, ihre Bedürfnisse und Interessen diesen Zuteilungen nicht entsprechen, werden sie dennoch überall damit konfrontiert. Steter Tropfen hölt den Stein – bis dahin, dass sich „Frauen“ und „Männer“ mit den Stereotypen identifizieren. Hierbei handelt es sich um eine normalisierte Diskrimierungsform von Sexismus innerhalb unserer kulturellen Erziehung und Sozialisation.

Andere Formen von Gewalt sind bereits allgemein bekannter und werden weniger toleriert, z.B. durch das Verbot der Kinderarbeit oder unzumutbare sowie nicht dem Alter der Kinder entsprechende Tätigkeiten in Familien.
Aber auch hier ist das Wissen um, sowie Toleranz und Akzeptanz solcher Situation durch Mitmenschen nicht unüblich.

In meiner Kindheit war der „Running Gag“ in der Familie bei Familienfeiern:
„Na Maya, du hier? Hast du deine Kinderarbeit für heute etwa schon erledigt?“
In der Familie wussten viele, dass ich bereits mit ungefähr zwölf/dreizehn Jahren Samstags und Sonntags in einem kleinen Zimmer viele Stunden bügelte, Bäder reinigte und auch sonst sehr viele Tätigkeiten für die fünfköpfige Familie zu erledigen hatte. Dies hatte zur Folge, dass ich kaum Freundschaften schließen konnte, da ich die Wohnung selten verlassen durfte.

Aber was bedeutet soziale Verantwortung nun im Kontext von Eltern und Kind?

Kinder sind Wesen, die sich beschweren, wenn es ihnen nicht gut geht.

Du merkst es, wenn es ihnen nicht gut geht.

Und selbst, wenn sie sich nicht mehr trauen Einwände oder Beschwerden hervorzubringen (ja – mit genügend Bestrafungen hören alle Kinder aus Angst irgendwann auf) oder die Hoffnung verloren haben jemanden zu erreichen mit ihren Worten, werden sich Zustände des Unwohlseins zeigen! Dies kann man z.B. an folgenden Entwicklungen sehen, die sich psychisch und psychosomatisch zeigen können:

Der Mensch…

  • wird allgemein immer ruhiger und introvertierter, nabelt sich vom Geschehen ab. Oder genau das Gegenteil: Der Mensch wird immer unruhiger und extrovertierter, bringt sich zwanghaft in alle Geschehnisse ein. Dies betrifft auch Kindergarten, Schule usw.
  • zeigt länger anhaltende körperliche Symptome, wie z.B. Bettnässen, unkontrollierte Zuckungen von Augen, Mund, anderen Muskeln, Lethargie mit Antriebslos- und Interessenlosigkeit oder heftige unkontrollierbare Wutausbrüche.
  • hat Probleme Freundschaften zu schließen, kann sich kaum konzentrieren oder beginnt mit unsozialem und/oder kriminellem Verhalten (z.B. Diebstahl, Körperverletzung).

All diese Symptome sind als Beispiele zu sehen und können natürlich auch anderweitige Ursachen haben. Als Folge von emotionaler Gewalt, die häufig hinter verschlossenen Türen zu Hause stattfindet, sind solche psychischen und physischen Erscheinungen jedoch immer ernst zu nehmen und weisen vor allem auf verborgenes, nicht kompensierbares Leid hin! Und dies löst sich auch nicht irgendwann einfach auf (was eine seltsame weit verbreitete Meinung ist), sondern wird verdrängt und vom Bewusstsein abgespalten. Eine schlimme Folge, die zu lebenslangen Beeinträchtigungen führen kann.

Die Verantwortung bei all diesen Geschehnissen liegt bei den Menschen, die die größere Macht und damit Verantwortung im vorliegenden Beziehungsgeflecht haben.
Wenn die Eltern, Lehrer*innen, später auch Arbeitgeber*innen die Bedürfnisse, Gefühle und damit in Verbindung stehende verbale Hinweise nicht ernst nehmen oder vielleicht sogar sichtbares Leid und auftretende Symptome verdrängen und verleugnen, tragen sie eine aktive Verantwortung für emotionale und/oder physische Gewalt.

Noch schlimmer wird es, wenn diese dann zum einen die Verantwortung leugnen und zum anderen die Verantwortung den Betroffenen zuschreiben.

Zu den Beispielen zählen:

  • Wenn Mobbingberoffene im Klassenverbund „selber schuld“ sein sollen.
  • Wenn langanhaltende psychosomatische Symptome als Belastung von den Familienangehörigen angesehen werden, durch deren psychische und/oder physische Gewalt die Ursachen der Symptome überhaupt entstanden sind.
  • Wenn fehlende Kommunikationsstrukturen, Vertrauen und Offenheit in Unternehmen zu Fehlern führen, die den Mitarbeitenden in die Schuhe geschoben werden.

Worum geht es bei sozialer Verantwortung also im Allgemeinen?

Letztendlich geht bei der Frage nach sozialer Verantwortung immer um die Wahrnehmung unseres Selbst sowie der (sozialen) Umwelt, also unserer Mitmenschen, Kommunikation und diesbezüglicher Selbstreflektion.

Dies lässt sich über die vorangegangenen Ausführungen auch auf Beziehungen ohne strukturelle Machtkonstellation ausweiten:

Wenn ich z.B. vollkommen genervt mit meinem Kind auf einen Spielplatz gehe und eine befreundete Person mit ihrem Kind total ungerechtfertigt anschnauze und runter mache, können wir von fehlender (Selbst-)Verantwortung und verursachtem Leid sprechen. Ich habe mich nicht dahingehend selbst reflektiert, wie ich mich selbst regulieren kann, ohne, dass mein Kind oder eine andere Person aufgrund meiner Befindlichkeit Leid erfährt. Die Wahrnehmung von Schmerz und Gewalt ist sehr variabel und kann daher bereits in diesem Fall als emotionale Gewalt eingestuft werden. Eine andere Möglichkeit könnte sein, der befreundeten Person gleich beim Ankommen zu sagen, dass ich mich heute sehr schlecht fühle und sie das nicht persönlich nehmen darf. Vielleicht redet man dann sogar darüber was passiert ist. Oder aber ich könnte nach ein paar Minuten entscheiden an einen anderen Ort auf dem Spielplatz zu gehen, wo keine anderen Menschen sind, die ich verletzen könnte mit meinen hitzigen Aussagen. Dort könnte ich mir überlegen, wie ich mich beruhigen kann.

Dies ist ein Alltagsbeispiel.
Aber genau hier finden wir oft schon den Grundstein für verantwortliches Denken und Handeln.

Mir ist wichtig aufzuzeigen, dass soziale Verantwortung sowohl die Verantwortung gegenüber sich selbst, als auch die Verantwortung gegenüber anderen Personen mit einschließt.

Dabei sollte das Ziel in einer friedlichen und humanen Gesellschaft immer die Vermeidung von Leid, ausgelöst durch Gewalt und Diskriminierung, sein.

Die durch Gewalt und Diskriminierung ausgelösten Entwicklungstrauma von Betroffenen haben daher immer etwas mit der Verantwortung von Leid verursachenden Personen, auch sogenannte „Täter*innen“ genannt, gegenüber sich selbst und gegenüber den Betroffenen zu tun – aber auch mit der (zukünftigen) Selbst- und Fremdverantwortung erwachsener Betroffener.
So kann der leidvolle Kreislauf durch leidverursachende Gewalt und Diskriminierung vielleicht durchbrochen werden.


Kleines Resümee

Wir alle können von Leid betroffen sein und wiederum Leid verursachen. Ob wir Leid verursachen hängt davon ab, ob wir uns selbst reflektieren und Verantwortung für uns selbst übernehmen wollen. Schieben wir anderen Menschen (z.B. Partner*in, Kindern) unser eigenes Leid / unsere eigenen Gefühle in die Schuhe, damit wir weniger Verantwortung für uns selbst übernehmen müssen? Oder wollen wir uns überhaupt mit den Ursachen unseres eigenen Leides auseinandersetzen?
Außerdem hängen mögliches leidverursachendes Denken und Handeln davon ab, ob wir andere Menschen ernst nehmen. Sehen und hören wir wirklich zu, z.B. unserem Kind, Arbeitskolleg*in oder Freund*in? Oder wollen wir lieber die Augen vor dem Leid der anderen verschließen?
Außerdem ist das Vermeiden von verursachendem Leid unmittelbar mit dem Willen verbunden andere, gemeinsame Wege zu finden, auf denen eben nicht nur eine Person ihre Bedürfnisse und Interessen durchsetzt, sondern eine Aushandlungs- und Kompromisskultur gedeiht.


In weiteren Artikeln möchte ich noch genauer auf die
„Verantwortung gegenüber sich selbst“ und die
„Verantwortung gegenüber anderen“ eingehen.
Außerdem ist mir ein Artikel zum Thema „Nicht Täter*in werden“ wichtig.

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