Eine für mich sehr präsente Folge meines Entwicklungstrauma ist, dass ich in meiner Kindheit und Jugend keine gesunde Selbstregulation erlernen durfte – und diese dadurch bis heute sehr schwer erfühlen und anwenden kann.
Was genau meine ich damit?
Selbstregulation umfasst intrapsychische Zustände, wie z.B. das Erspüren von entsprechenden Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung, wie die Nahrungsmittelaufnahme bei Hunger und Regulation von Entspannung in Momenten mit Spannungszuständen oder die dynamischen emotionalen Reaktionen auf Reize.
Selbstregulation ist eine sehr individuelle Herstellung von Wohlbefinden, die wir in unserer Kindheit und Jugend erlernen. Was uns wirklich gut tut, können wir normalerweise nur selbst erfühlen. Manche Menschen können Ausgleich und Balance im Körper durch sportliche Aktivität wiederherstellen. Andere brauchen absolute Reizarmut, ein Buch, eine Stunde am Meer o.a. Die Entscheidung zu einem dieser Mittel der Bedürfnisbefriedigung steht jedoch erst an zweiter Stelle. Davor vollzieht sich der intrapersonelle Vorgang (in einer Person ablaufende Vorgang) der Wahrnehmung eines Bedürfnisses und zugehöriger Gefühle sowie das Bewusstsein über und das Abrufen von vorhandenen Erfahrungen zur Bedürfnisbefriedigung.
Diesen grundlegenden Ablauf erlernen wir normalerweise in unserer Kindheit und Jugend, wie eine Muttersprache, und ist im weiteren Lebensverlauf ein weitgehend unbewusster Vorgang. Das heißt, es wird vollkommen normal für uns zu wissen, was wir in bestimmten Situationen brauchen und Wohlsein herbeiführt: wie wir Stress begegnen, was uns motiviert oder wie wir Freundschaften und soziale Kontakte aufbauen und Beziehungen pflegen.
Wenn das gut gelaufen ist in dieser Lebensphase, können wir später intrinsisch motiviert unseren Gefühlen und der Bedürfnisregulation vertrauen. Wir wissen dann was uns gut tut und setzen dies auch um. Dieser Vorgang wird im Verlauf des Lebens durch neue Erfahrungen im Sammelsurium der Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten höchstens noch ergänzt oder umstrukturiert.
Wir erlernen also in unserer Kindheit und Jugend ein Vertrauen zu uns selbst aufzubauen und in deren Folge zu erfühlen, was uns gut tut, was zu Wohlsein und Regeneration führt.
Um diesen Prozess zu ermöglichen, brauchen Kinder und Jugendliche die Freiheit und das Vertrauen Gefühle auszuleben, d.h. rauszulassen und mitzuteilen sowie selbstständig Bedürfnisbefriedigungsmittel auszuprobieren und für gut oder schlecht zu befinden – OHNE ZWANGHAFTE VORGABEN VON AUßEN.
Was passiert nun mit Kindern und Jugendlichen, denen dies nicht möglich ist, die unter strikten äußeren Vorgaben ihre Gefühle regulieren und Bedürfnisse befriedigen müssen?
Das Gehirn von Kindern und Jugendlichen befindet sich noch in der Entwicklung bzw. im Wachstum und bildet Strukturen aus, die eine Grundlage für das ausgewachsene Gehirn darstellen werden. In den Gehirnwindungen bilden Synapsen sowas wie Straßen, die mehr oder weniger stark ausgebildet sind, je nachdem welche Erfahrungen der junge Mensch machen darf. Ein Beispiel wäre, dass ein Kind, was sich viel im Freien, in Wäldern, auf Wiesen usw. aufhält, bestimmte Erfahrungen und Fähigkeiten erwirbt, die sich in das Gehirn buchstäblich einbrennen. Genauso ist es mit dem Vorlesen, selber lesen, Umgang mit Streitigkeiten und Stress. Es werden bei allen Situationen über den Zeitraum der Kindheit und Jugend im Gehirn Strategien angelegt, wie man auf bestimmte Situationen reagieren kann. Grenzen der Möglichkeiten gibt es überall und werden z.B. vorgegeben durch Gesetze, kulturelle Normen und Werte oder familiäre Gewohnheiten. In diesem Rahmen können sich Bewältigungsstrategien entwickeln.
Jetzt stellt euch zuerst das Positivbeispiel vor. Das heißt, die möglichen Erfahrungsräume der Umwelt eines jungen Menschen sind sehr breit gefächert. Dies wird ermöglicht durch die äußeren Rahmenbedingungen, wie z.B. Gesetze, Normen, Werte der Gesellschaft, Familie, Kindergarten, Schule.

Die älteren Menschen begleiten den jungen Menschen liebevoll bei den Erfahrungen und so entstehen vielfältige Denk- und Handlungsoptionen im Gehirn und Gefühle rund um Vertrauen und liebevollem Miteinander.

Der Körper befindet sich in einem dynamischen Wechselspiel von Anspannung und Entspannung. Einige von den Denk- und Handlungsoptionen aus der Umwelt werden abkopiert und mit freien Entscheidungsmöglichkeiten entstehen ganz individuelle Denk- und Handlungsoptionen, die dem jungen Menschen im individuellen Dasein am besten entsprechen. Es bilden sich dadurch dynamische Denk- und Handlungsoptionen, die der Mensch durch seine Erfahrungen immer wieder an neue Herausforderungen anpassen kann. Zu diesen Erfahrungen gehören nicht nur konkrete Denk- und Handlungsoptionen, sondern vor allem: sich sicher zu fühlen, angenommen zu werden von anderen Menschen, nach Frust und Stress wieder mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, die Zuversicht Herausforderungen zu meistern (auch mit anderen Menschen zusammen), Vertrauen in sich selbst und andere Menschen usw.

Dies bildet ein Fundament für das gesamte spätere Leben. Auf diesem Fundament kann der heranwachsende und erwachsene Mensch neue Situationen und Herausforderungen durch die „Brille bisheriger Erfahrungen“ positiv angehen. Es besteht ein fundamentales Vertrauen sowohl dabei Neues zu meistern, als auch in der Begegnung und Beziehung mit Menschen.
Schauen wir uns nun an was mit jungen Menschen passiert, die diese Erfahrungsräume und liebevolle Begleitung nicht erhalten (haben).
Können oder wollen Fürsorgepersonen einem jungen Menschen Erfahrungsräume und liebevolle Umgangsweisen nicht ermöglichen, entstehen Entwicklungsfolgen im Gehirn des Kindes und Jugendlichen. Diese Folgen können genauso durch fehlende Erfahrungsräume und liebevollen Umgang in Kriegsgebieten, Diktaturen usw. entstehen.
Durch weniger Erfahrungen entsteht erstmal eine geringere Speicherung von Erfahrungsvielfalt und damit möglichen Denk- und Handlungsoptionen in der Welt. Es bilden sich weniger synaptische Bahnen, d.h. weniger befahr- oder begehbare Straßen.
Zu den Beispielen zählen:
- das Verwehren von Draußenspielzeiten für Kinder
- Verbote für gleichaltrigen Umgang in der Freizeit Jugendlicher
- Fehlen von Familienausflügen
- geringe bis keine Kontakte der Familie zu anderen Menschen
- Verbote von z.B. Klassenausflügen, Konfirmation oder Jugendweihe, Hobbies
Ein weiteres Beispiel ist die Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Prozentual entwickeln Kinder, mit denen viel gesprochen oder denen viel vorgelesen wird, ein besseres Sprachbewusstsein, als Kinder denen diese Erfahrungen fehlen. Sie besitzen bei der Einschulung einen größeren Wortschatz und einen besseren grammatikalischen Sprachgebrauch.

Neben der geringeren Erfahrungsvielfalt und möglichen Denk- und Handlungsoptionen können schwerwiegende Folgen durch gewalt- und diskriminierungsvolle Beziehungsgestaltung entstehen.
Zu den Beispielen zählen:
- ständige Hinweise von Lehrer*innen, wie dumm du bist
- ständige Beleidigung zu deinem Aussehen von einem Familienmitglied
- ständiger Zwang Dinge zu essen, die du nicht magst
- oft stundenlang im Bett liegen, ohne müde zu sein
- Verwehrung von medizinischen Untersuchungen oder Hilfsmitteln, wie z.B. einer Brille
- ständige Beleidigungen und körperliche Angriffe durch Mitschüler*innen
Oder ganz unscheinbar:
Auf einem Spielplatz saß ein Papa mit seinem 4 jährigen Kind. Das Kind formte mit ein paar Sandförmchen kleine Kuchen. Jedes Mal, wenn ein neuer Kuchen fertig war, zeigte das Kind diese dem Papa. Dieser reagierte fortlaufend mit in etwa folgenden Sätzen: „Na ja das ist höchstens eine 4! Schau mal da fehlt ja die Hälfte!“ oder „Für ne Eins musst du dich schon mehr anstrengen.“

In dem letzten Beispiel geht um die Herabsetzung der Leistung des Kindes. Das kleine Kind versteht noch nicht was eine solche Wettbewerbsorientierung sein soll oder warum der Papa sich so verhält. Was beim Kind bleibt (vor allem bei dauerhafter Herabsetzung) ist das Gefühl von: Traurigkeit und Angst – nicht gut zu sein, so wie man ist, Dinge nicht gut genug zu machen, nicht zu genügen und sich mehr anstrengen zu müssen (auch wenn dies den alterstypischen und individuellen Fähigkeiten nicht entspricht). Da das Bedürfnis nach elterlicher Liebe und Zugewandtheit stark ausgeprägt ist, werden sich mit der Zeit dahingehende Gefühls- und Gedankenmuster ausbilden, da in der Zeit der Kindheit ausgebildet, auch der Einfluss auf die sogenannte kindliche Prägung. Eine zum Teil lebenslange Bürde.

Zu den Folgen gehören ein geringes Selbstwertgefühl, geringe Selbstwirksamkeit und dauerhafter innerer Stress, d.h. Anspannung. Daraus resultieren z.B. geringere Kapazitäten für Konzentration und Lernvorgänge.
Ist die Beziehungsqualität zwischen Bezugspersonen und Kind nun häufig in dieser Weise gestaltet, prägen sich diese Gefühle, z.B. Ängste, und Vorstellungen von sich selbst in das sich entwickelnde Gehirn ein. Durch Stress und Angst wird im Gehirn die Möglichkeit zu dynamischen Denk- und Handlungsoptionen lahm gelegt. Der Mensch reagiert nur noch, vor allem so, wie es von der Bezugsperson erwartet wird. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sicherheit ist so stark ausgeprägt beim Menschen, dass sich Kinder an alles Mögliche anpassen, nur um zu überleben.
Und hier sehen wir die erste Entwicklungsfolge gewalt- und diskriminierungsvoller Beziehungsgestaltung, durch die eine gesunde Selbstregulation verhindert wird. Selbstregulation erfordert in der Entwicklung dynamische Denk- und Handlungsfreiräume, selbst entscheiden zu können und das Gefühl, dass man in Ordnung ist, so wie man ist, also ein Zustand von grundlegender Entspannung. Liegt das nicht vor, entwickelt sich keine grundlegende physische und psychische Entspannung, als Basis der sich entwickelnden gesunden Regulationsprozesse. Außerdem wird in deren Folge die Entwicklung eines grundlegenden Selbst- und Fremdvertrauens gestört. Dafür bilden sich langanhaltende Zustände der Anspannung und der Orientierung an Erwartungen von Anderen aus. Und das wichtigste: MAN LERNT SICH SELBST NICHT RICHTIG KENNEN, die eigenen Vorlieben, Grenzen, Fähigkeiten, die Denk- und Handlungsoptionen, die am besten zu einem passen, d.h. mit denen man sich am wohlsten fühlt. Ohne dies zu kennen, wird es jedoch schwierig Anspannungszustände so zu lösen, dass nachhaltiges Wohlsein herbeiführt wird. Eine weitere Folge ist das Gefühl von Scham und Angst, wenn Betroffene sich selbst fühlen und kennen lernen wollen – es war ihnen ja in der prägensten Zeit nicht erlaubt, stand unter Strafe und wurde als etwas Schlechtes dargestellt.
Im professionellen Kontext unterscheidet man hier die „autonome Anpassung“ von der „funktionalen Anpassung“ an sich selbst und die Umwelt. Konnte ich keine mir entsprechenden Denk- und Handlungsoptionen sowie Gefühlskenntnisse zur Befriedigung meiner Bedürfnisse entwickeln („autonom“) bleibt mir nur die Orientierung an dem, was andere Menschen und die Umwelt mir anbieten und zur Verfügung stellen. Das heißt, dass strikte Vorgaben in Kindheit und Jugend dazu führen, dass junge Menschen kein Gefühl dafür entwickeln was sie wirklich brauchen, um sich langfristig und konstant gesund zu entwickeln. Sie können die Anspannungszustände nicht abbauen und suchen auch später noch nach Befriedigungsoptionen durch äußere Vorgaben, wie in ihrer Kindheit und Jugend gelernt. Die Quintessenz ist das fehlende Gefühl für sich selbst, sich fühlen zu können, fühlen zu können, was man gerade braucht und was nicht. Und nach diesem Gefühl zu wissen was für Handlungsoptionen einem gut tun. Diese Schablone legen wir in der Kindheit und Jugend an.
Nun mache ich nochmal einen Schlenker zu meinen Erfahrungen. Mir wurde diese Entwicklung zu einem großen Teil verwehrt. Zu den Folgen gehören z.B. dass ich oft nicht schlafen gehen kann, obwohl ich mich sehr erschöpft und müde fühle. Es fällt mir schwer, zu sagen worauf ich Hunger habe. Es gibt Zeiten, in denen ich das Essen oder körperliche Bewegung über Tage vergesse aufgrund innerer Anspannung. Ich überschreite oft die Grenze meiner Stresstoleranz und mache immer weiter und weiter. Schlussendlich bin ich vollkommen erschöpft und reizüberflutet.
Es ist so, als wenn ich mich nicht zu Hause fühle in meinem Körper – er gehörte in Kindheit und Jugend ja auch nicht mir, sondern den Menschen, die über mich bestimmt haben.
Und dieses Gefühl zeigt sich immer noch jeden Tag. Ich bin also seit meiner Kindheit auf der Suche nach mir, nach meinen Bedürfnissen und den zugehörigen Gefühlen.
Mir wurde in meiner Kindheit und Jugend dauerhaft vermittelt, dass ich mit emotionaler Gewalt bestraft werde, wenn ich mich zeige, meine Bedürfnisse und Gefühle. Ich wurde gedemütigt und herabgesetzt, vernachlässigt, mit Kinderarbeit zugedeckt und sozial isoliert. Wenn ich sagte, was ich wirklich möchte, wie ich mich mit etwas fühlte, wurde ich wiederum bestraft.
Und bis heute bleibt das tief eingebrannte Gefühl – es ist gefährlich, wenn du dich selbst fühlst und deinem Inneren Raum gibst.
Ich habe viele verschiedene Therapien (Verhaltens- und Tiefenpsychologische) gemacht und kognitiv sehr vieles verstanden – und doch konnte ich dieses Nichtfühlen und Nichtwahrnehmen meines Selbst nicht überwinden. Und das liegt daran, dass sich schwere und langanhaltende Formen der Gewalt und Diskriminierung in der Kindheit und Jugend in Wahrnehmungs-, Gefühls- und Gedankenmustern innerhalb der Persönlichkeitsentwicklung in dieser prägenden Lebenszeit festsetzen. Es geht viel tiefer als kognitive Gedankengänge. Die Muster werden zu einem Fundament, auf dem sich das Leben abspielt. Wie ein Steuerraum, ganz tief unten, von dem alles ausgeht, zu dem der Zugang jedoch nur schwer möglich ist.
Auf dem Weg der letzten 20 Jahre, konnte ich mich bereits aus einigen Fallen meiner Kindheit und Jugend befreien. Ich erkenne heute jede Form von emotionaler Gewalt 100 Meilen gegen den Wind – und reagiere meist sehr allergisch darauf. In einer tiefenpsychologischen Therapie habe ich gelernt mich kognitiv nicht mehr selbst herabzusetzen. Ich konnte neue Handlungsoptionen erlernen. Wenn ich heute emotionaler Gewalt gegenüberstehe, schweige ich nicht mehr wie in meiner Kindheit und Jugend, sondern habe den unausweichlichen Drang darauf hinzuweisen und mich, bei Fortsetzung der Gewalt, lautstark zu wehren.
Durch die Traumatherapie änderte ich meinen Fokus nochmal vom Verstehen zum Erfühlen. Diese Form der Therapie ist ganz anders als meine vorherigen. Sie spricht vor allem mein Gefühl zu mir selbst an, meine Selbstwahrnehmung und die Betrachtung der dauerhaften Anspannung, hinter der die ganze Angst aus meiner Kindheit und Jugend liegt. Ich musste und muss wieder lernen zu meinem Kind-Ich zurückzukehren, mir meine Gefühle erlauben, mir ganz eigene Bedürfnisse und Befriedigungsformen zugestehen. Erst wenn ich meine Gefühle zu mir selbst wieder zulasse, mich dadurch entspannen und wieder selber im Alltag fühlen kann, erschaffe ich die Grundlage für eine gesunde Selbstregulation.