Intro
Folgende Artikel gehören zu dieser Reihe:
Im 1. Teil dieser Reihe habe ich euch davon berichtet, wie ich zu der Idee »Bedürfnistage« gekommen bin. Hier kannst du dies nochmal nachlesen, falls das an dir vorbeigegangen ist.
Ich habe ja bereits in dem Artikel »Folgen meines Entwicklungstraumas« davon gesprochen, dass ich aufgrund starker Repressionen in Kindheit und Jugend, das heißt starker Unterdrückung meiner Bedürfnisse, Interessen sowie Gefühle, zum Teil unfähig bin diese zu spüren – bis heute. In mir befindet sich eine Welt, in der eine diesbezügliche Taubheit, Leere und Dunkelheit besteht. Dem »Extrem der Repression« möchte ich meinem Körper, meiner Psyche, meiner Seele nun ein »Extrem der Freiheit« entgegensetzen – zumindest in den »Bedürfnistagen«! Dabei werden auch »repressive Umweltfaktoren« ausgeschaltet – egal der Tag-Nacht-Rhythmus, egal, die Menschen, die klingeln, egal, der Briefkasten, egal jegliches Müssen. Also reinschubsen in das kalte Wasser sozusagen: sich spüren, sich sehen, ohne Ablenkungen, ohne Fluchtmöglichkeiten.
Wie wird das sein? Wie wird mein Körper reagieren? Ich war gespannt…
Und dann kam eine Woche – ganz allein, ohne Kind, ohne Termine, ohne Arbeit, ohne andere Menschen. Ich kaufte alles Mögliche für diese eine Woche vorher ein, so dass ich auch ja nicht nochmal „gezwungen“ sein würde Einkäufe zu tätigen.
Und dann sagte ich meinem Kind tschüss und es fuhr davon.
Nun war ich allein und das Experiment »Bedürfniswoche« konnte beginnen.
Tag 1
Es war Samstag, ich war nun allein und ging meinen gewohnten Dingen nach, zumindest denen, auf die ich Lust hatte. Ich arbeitete an ein paar Konzepten, die mir im Kopf herumschwirrten, schaute aus dem Fenster, las in einem Buch, spürte nach, dachte nach… Über mich, mein Leben, wie mein jetziger Lebensabschnitt aussah und spürte dabei immer wieder in mich rein. Dabei flankierten mich immer wieder störende Gedanken des »Müssens und Sollens«. Ich konnte mich zwar bewusst in Entspannung bringen, aber sie war keineswegs grundlegend vorhanden. Aber was wollte ich erwarten am ersten Tag? Ganz nach dem Motto der Bedürfnistage »Alles darf sein«, ließ ich all das zu, sah es mir einfach nur an. Bereits am ersten Tag spürte ich, dass ich sehr viel später müde wurde. Ich ging erst gegen 2 Uhr Nachts, am Sonntag, zu Bett und erwachte 10 Uhr am Vormittag.
Tag 2
Dieser Tag gestalteten sich dem ersten Tag sehr ähnlich. Ich genoss die Freiheit! Mein Kopf wurde immer freier und die Ideen sprudelten nur so. Ich räumte nix auf und machte meine Bude nicht sauber. Immer wieder klopfte die vorsichtige Achtsamkeit vor anstehenden Terminen, sozialen Verpflichtungen o.ä. an. Bis sich meine Schultern wieder senkten, als mir bewusst wurde, dass ich diese ja von vornherein ausgeschlossen hatte. In diesen Tagen schloss sich der »Zauber des Neuen« um mich und meine vier Wände.
Ja, sonst machte ich in meiner Freizeit auch das, was mir Spaß macht.
Der Unterschied zu früheren Freizeitbeschäftigungen war nun jedoch eine andere innere HALTUNG.
Immer wieder bin ich mit folgenden Leitsätzen bewusst durch den Tag zu gegangen:
- Nichts schränkt mich ein!
- Ich kann machen was ich möchte – dazu gehört neben dem, was mein Kopf möchte, aber auch immer die Frage an mein Gefühl und meinen restlichen Körper:
Möchtet ihr das auch?
Das war sehr spannend, nun hatte ich wirklich den inneren und äußeren Raum, um mich dies immer wieder zu fragen. In den ersten Tagen antworteten die Gefühle und mein restlicher Körper kaum. Mein Kopf gab vor und alles machte nach – so wie sonst eigentlich auch.
Das Bewusstsein darüber bzw. die dahingehende Fokussierung stellten nun jedoch den entscheidenden Unterschied zu früheren Freizeitaktivitäten dar.
Auch am zweiten Tag übte ich mich also darin, immer wieder zu schauen, ob mein Körper mir Signale sendet, wie sich meine Gefühlswelt zeigte und wenn dies geschah, wie ich als ganze Person darauf reagierte! An diesem Tag wurde ich noch später müde: gegen 4 Uhr morgens, Montag, ging ich schlafen und erwachte gegen 13 Uhr.
Tag 3
Als ich an diesem Tag aufwachte spürte ich etwas für mich erstaunliches: Es zog mich in die Küche, ich machte mir schöne Musik an und sah voller Vorfreude in den Kühlschrank: Ich hatte wirklich Lust auf ein schönes Frühstück – nicht vom Kopf her, sondern mein ganzer Körper zeigte sich mir. Ich musste gar nichts machen – mein Körper tat dies. Ich musste das Ganze nicht durchdenken, sondern meine Gefühle leiteten mich: Joghurt, Früchte, alles zusammen, Orangensaft, Wasser, Café!
Einfach so.
Und ich hatte die ganze Zeit ein gutes Gefühl dabei – ohne hetzen, nachdenken, Druck o.ä.
Es fühlte sich toll an. Wie unglaublich lange war dieses »Ganzkörpergefühl« schon her?
Das war genau das, von dem mein Trauma-Therapeut immer wieder sprach. Ich musste mich nicht anstrengen, viel nachdenken, verzweifelt nach Lösungen suchen. Alles was anscheinend notwendig war, war da zu sein und sich zu spüren.
Jetzt wo ich das niederschreibe schleicht sich wieder ein schlechtes Gefühl ein, Scham.
Ich stelle mir vor, wie Menschen dies lesen und dann denken oder sagen: Wieso schreibt die über sowas!
Das ist doch das Normalste der Welt!
Ist die zu doof zum Leben?
Und dann nimmt mein Erwachsenen-Ich mich in Schutz und sagt: Ich darf sein, genauso, wie ich bin!
Ich habe das vllt. nicht so erlernt wie Du, der dies denkt oder sagt! Basta!
An diesem dritten Tag entwickelte sich in mir die Motivation das Haus zu verlassen!
Wenn ich länger nicht draußen war, da ich meist von zu Hause aus arbeite, oder ich mich krankheitsbedingt nicht länger draußen aufgehalten habe, entwickelt sich vor längeren Spaziergängen immer wieder eine Art Scheu, eine hochgemauerte Wand, die meine Haustür ersetzt. An diesem Tag rief ich eine Freundin an und fragte sie, ob sie mir an diesem Tag »Starthilfe« geben könnte. Gesagt, getan. Sie holte mich ab und wir gingen im Park spazieren. Oh, es war so schön, selbst gewählt und frei. Bewusst roch ich, beobachtete und unterhielt mich ganz toll.
In diesen Tagen überkam mich dann die Idee, die Muße und Motivation für ein Projekt, das sich genau mit den Problemen beschäftigen sollte, die mich und viele andere Menschen tagtäglich, mal mehr, mal weniger, begleiteten: Leben mit Entwicklungstrauma, also komplexen PTBS.
Also begann ich am 3. Tag diesen Gemeinschaftsblog in´s Leben zu rufen.
An diesem Tag ging ich 8 Uhr morgens, am Dienstag, ins Bett und erwachte gegen 17 Uhr.
Tag 4
Mehr und mehr spürte ich Hunger, das Bedürfnis nach Bewegung, nach Ruhe, nach Tätigsein usw. Immer mehr brachen die Barrieren ein, die mich sonst hemmten diesen Bedürfnissen nachzugehen. Ich machte es einfach. Na ja, was heißt einfach!? Ich glaube, ich konnte dem nur deshalb so »einfach« nachgehen, weil meinen Gefühlen und körperlichen Bedürfnissen der Raum gegeben wurde, sich zu zeigen und sich dadurch lauter zu melden.
Es ging hier also um Raum.
Neben diesen Veränderungen spürte ich noch etwas erstaunliches: Freude. Einfach innere Freude beim Aufwachen, bei Gedanken an den Tag, an die Küche und das Frühstück, beim Füße voreinander setzen. Einfach so.
Es ist nicht so, dass ich das sonst niemals spüre, aber es war so viel umfangreicher als sonst. Erich Fromm nannte mal ein Bedürfnis, das dem, meiner Meinung nach, ganz Nahe kommt: »Das Leben feiern!«
Ansonsten ging ich wieder spazieren mit meiner Freundin und arbeitete an der Website weiter.
Gegen 10 Uhr am Mittwochvormittag ging ich dann ins Bett und schlief bis 18 Uhr.
Tag 5, 6 und 7
Die folgenden Tage zogen sich so weiter, ich fühlte mehr, konnte meinen Bedürfnissen den Raum geben, die sie benötigten. Ich ging dann seit dem 5. Tag alleine raus – einfach losgegangen bin ich, morgens um 5 zum Sonnenaufgang, in den Park. Das war ein schönes Gefühl.
In den Tagen 5 und 6 spürte ich aber auch immer wieder Wehmut und Traurigkeit, die aufkam – wenn ich irgendwo ruhig saß und die Welt beobachtete. Aber das war ok. Es war in diesen Momenten nichts in mir, dass diese Gefühle wegdrängen wollte. Es fühlte sich eher nach »lebendig sein« an. Ich vertraute in den Momenten darauf, dass diese Gefühle und Gedanken vergehen würden. Es war keine Angst da.
An Tag fünf, Donnerstags, ging ich um 14 Uhr ins Bett und erwachte gegen 23 Uhr.
An Tag sechs, Freitags, wurde ich um 17 Uhr müde und erwachte 2 Uhr morgens, am Samstag.
An Tag sieben, Samstags, schlief ich gegen 19 Uhr und erwachte gegen 4 Uhr morgens, am Sonntag, meinem letzten Bedürfnistag.
In diesen letzten 3 Tagen schlich sich bei mir ein Gefühl von »Normalität« ein. Ein untergründiges Gefühl von Vertrauen, Sicherheit und Zuversicht schwang in allem mit. Das »Neue« war verflogen.
Ich mochte die Signale meines Körpers immer mehr, sprach sogar liebevoll mit ihm, wie mit meinen Pflanzen 😉
Am letzten Tag, am Sonntag, wurde mir dann allerdings schon wieder etwas mulmig.
Zum einen freute ich mich sehr darauf am nächsten Tag mein Kind und andere Menschen wiederzusehen. Zum anderen bäumte sich eine dunkle Wolke auf, beim Gedanken an die Verpflichtungen, die in der nächsten Woche auf mich zukommen würden. Es waren nicht die Termine an sich, sondern, die Angst vor dem Verlust meiner Freiheit, der Freiheit mich spüren zu können, ohne äußere Reize, die mich davon ablenken.
Doch auch die schönste Zeit findet mal ein Ende. Und letztendlich musste ich mir an diesem Sonntag, der so voller unterschiedlicher Gefühle war, eingestehen, dass das Ziel ja immer war, auch im Alltag meine Gefühle und Bedürfnisse, also meinen Körper, besser zu spüren.
Ein bisschen Abschiedsschmerz gehört wohl immer dazu und so startete ich meine neue Woche am Montag pünktlich und innerhalb der vorgesehen Tag-Nacht-Zeit um 7 Uhr.
Was ist nun die Quintessenz aus dieser Woche?
Was nehme ich mit?
Was lerne ich daraus für mich?
Im Großen und Ganzen bin ich sehr positiv aus dieser Woche herausgegangen. Dieses Grundgefühl von Vertrauen, Sicherheit und Zuversicht in meinen eigenen Körper hielt auch noch ein bis zwei Wochen an. Die Selbstwahrnehmung verbesserte sich! Das war sehr schön.
Natürlich habe ich kein Wunder erwartet. Es war mir schon vorher bewusst, dass sich mit der Zeit wieder ältere Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster einschleichen würden – auch wenn ich im Alltag versuchte mehr auf meine Gefühle und meine Bedürfnisse zu achten. Aber die äußeren Reize, Gespräche, Erwartungen, Gruppendynamiken usw. sind für mich immer noch übermächtig. Die Auswirkungen in meinem Körper kann ich teilweise gar nicht steuern. An diesen »automatisierten« Prozessen arbeite ich ja nun jede Woche mit meinem Therapeuten mittels EMDR.
Aber ich versuche dem Ganzen mit einem positiven, annehmendem, zuversichtlichem Mindset zu begegnen.
Es war erstaunlich, dass mein Körper jeden Tag den Schlafrhythmus um 2 Stunden nach hinten verschob! Wie wäre das wohl weitergegangen? Bin ich vllt. ein Mensch mit einem dynamischen Schlafrhythmus? Gibt es sowas? Denn, wenn wir ehrlich sind, werden wir zu diesem strikten Tag-Nacht-Rhythmus gesellschaftlich ja auch gezwungen (mal abgesehen von Menschen, die in Schichtsystemen arbeiten, aber auch diese haben von außen vorgegebene Rhythmen des Schlafens).
Letztendlich denke ich, dass dies eine sehr gute Methode für mich ist, um mit mir selbst in Kontakt zu kommen.
Ich werde dies in den nächsten Jahren immer wieder testen und schauen was dabei rauskommt.
Eine ganze Woche für mich alleine haben – das wird aber so schnell nicht mehr vorkommen bei mir. Notiz und Frage an mich selbst: Muss ich eigentlich so sehr eingebunden sein?
Na ja, ich versuche es das nächste Mal mit 3 Tagen. Das heißt, das nächste Experiment heißt: 3 Bedürfnistage.
Darüber werde ich euch dann wieder berichten…
Spannendes und auch irgendwie total schönes Experiment… nun bin ich ein bisschen am grübeln, ob ich mir das auch erlauben könnte, aber ich glaub fast nicht 😄
Uund jetzt wissen wir also wie dieser Blog hier entstanden ist 🙃
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ja, so eine ganze Woche ist doch schon viel und irgendwie finde ich das auch erstaunlich, dass eine ganze Woche für uns selbst schon so schwierig ist in unserer Zeit 🙂
Ich habe es seit dem nicht nochmal eine ganze Woche geschafft. Werde das aber auf jeden Fall nochmal wiederholen… Und ja, da kann man mal sehen was einem in so einer Zeit für Ideen kommen können
😀
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