Der Besuch meiner Schwester


Beitrag von Tina
⏱ Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten
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Meine zwei Jahre jüngere Schwester war neulich mit ihrem Freund bei mir. Davor haben wir uns ungefähr zwei Jahre nicht gesehen und auch vor diesen zwei Jahren gab es nur einige wenige male Kontakt, denn wir haben uns nach meinem Auszug aus den Augen verloren. Um ehrlich zu sein, hatten wir eigentlich auch nicht viel füreinander übrig. Deswegen war dieser Besuch auch ein wirklich aufwühlendes Ereignis, das sehr viel in mir auslöste. Sie brachte viel zum Verarbeiten mit, deshalb fiel es mir auch so schwer diesen Text zu schreiben und ich habe ihn ewig vor mich hergeschoben. Ganze neun Stunden war sie bei mir und wir haben durchgehend geredet. Sie hat geredet. Ich war platt danach, etwas niedergeredet, aber es war auch schön und spannend. Wie zu erwarten ist mir ganz viel Stoff zum Nachdenken und sacken lassen da geblieben.

Meine Schwester und ich wir sind sehr verschieden, auf so vielen Ebenen. Als sie da war, war ich immer wieder am Staunen, wie glatt ihre Haare sind und wie sehr meine es nicht sind, nur um irgendwo zu beginnen. Auch meine liebste Freundin meinte, nach dem sie sie getroffen hatte, dass wir sehr konträr seien. Aber das waren wir schon immer. Vermutlich liegt das daran, dass wir in unserer Familie ganz andere Rollen eingenommen haben bzw. das mussten. Während sie anscheinend eher die Aggressionen meines Vaters abbekommen hat, habe ich seine „Liebe“ bekommen. Ich glaube, diese unterschiedlichen Rollen, die wir beide hatten, kamen dadurch zustande, dass ich schlicht das erste Kind meiner Eltern war. Ich war somit erstmal alleine mit ihnen und habe mich dadurch extrem an die beiden, mit ihren problematischen Verhaltensweisen, angepasst. Denn ich war immer absolut überangepasst, sehr ruhig und viel zu „brav“ für ein Kind. Meine „Aufgabe“ war es, sozusagen, die Harmonie in der Familie aufrechtzuerhalten, damit wir eine „glückliche“ Familie bleiben. Zumindest war das irgendwie meine Mission. Vorrangig bedeutete das bei Papas starken Stimmungsschwankungen darauf bedacht zu sein, dass seine Laune nicht allzu sehr nach unten kippte, denn sonst wurde es ungemütlich für uns alle. Niemand wollte das. Daher versuchte ich immer ihn irgendwie stolz zu machen, nie schwierig oder anstrengend und immer lieb und nach Möglichkeiten, „entzückend“ zu sein. Wie man sich nun vielleicht denken kann, ich war ein sehr schüchternes und verhaltenes Kind. Im Nachhinein betrachtet, hatte ich eigentlich immer Angst vor ihm oder ich war zumindest meist sehr vorsichtig mit meinen Worten und Taten. Manchmal frage ich mich, was passiert ist, dass ich so ruhig und „artig“ geworden bin, aber seit ich denken kann war ich so. Meine Schwester hingegen war nie so, ihre Strategie war eine andere. Sie war laut, rebellisch und „schwierig“, eben das „Problemkind“ in der Familie. Heute würde ich nicht mehr sagen sie war schwierig, meine Eltern waren es und die Toleranzschwelle meines Vaters war zudem utopisch niedrig. Er war ohnehin schon oft ohne ersichtlichen Grund gereizt und man musste das dann ausbaden, am besten schweigend, um ihn nicht noch weiter zu provozieren. Wir hatten keine gute Beziehung zueinander, meine Schwester und ich, denn wir haben einfach völlig unterschiedliche Interessen in der Familie verfolgt. Ihr ging es immer um Aufmerksamkeit, während ich eher so normal wie möglich, beinahe unsichtbar, sein wollte. Die Fassade oder den Schein einer heilen, glücklichen Familie, den ich uns immer bewahren wollte, hat sie mit ihrem Verhalten immer ins Wanken gebracht. Sie war „unangenehm“, hat gemacht, dass Papa böse wird. Das hat mir nicht gepasst, sie war ein Störfaktor für meine „Mission“ und ich war ihrer. Immer wieder hörte ich in letzter Zeit von ihr, wie „perfekt“ ich immer war, ich sei immer das „ideale“ Kind gewesen, an das sie nie herankam, mit dem sie aber immer verglichen wurde, weshalb sie nie diese „positive“ Aufmerksamkeit bekam. Es ist komisch das zu hören und doch spüre ich, dass es wahr ist. Ich würde gerne sagen, dass es mir leid tut, aber ich wüsste nicht was ich hätte anders machen sollen und immerhin wurde sie so vor dem sexuellen Missbrauch verschont. Denn es hat seine dunklen Seiten das Lieblingskind eines gestörten Mannes zu sein. 

Ungefähr an Weihnachten habe ich den Brief an meine Mutter geschickt und die einzige Person, von der ich eine Rückmeldung bekam, war meine Schwester. Sie schrieb so etwas wie, dass die Mama den Brief nicht versteht (was keine große Überraschung sei), aber dass sie mir vor allem sagen wolle, dass sie mich verstehe und mir bei allem zustimme. Sie habe außerdem nie wahrgenommen, dass es mir mit der Mama gleich ging wie ihr, da sie in mir immer nur den zu beneidenden „Liebling“ gesehen habe. Sie schrieb noch einiges mehr, aber das ist wohl der Kern ihrer Nachricht, was mich damals wahnsinnig gefreut hat, auch weil sie mir meine Wahrnehmung damit bestätigt hat. Denn mit Entwicklungstrauma ist es nicht immer einfach sich zu erlauben dieser zu vertrauen, da man lernen musste, der eigenen Wahrnehmung keinen Glauben zu schenken. Seit dem haben wir halbwegs regelmäßigen, schriftlichen Kontakt, in dessen Verlauf teilweise sehr lange Nachrichten zwischen uns hin und her gingen. Irgendwann beschlossen wir, dass sie mich nach meiner Prüfungszeit, wenn sie Urlaub hat, einmal besuchen kommt. (Mittlerweile liegen über zwei Stunden Autofahrt zwischen uns). Zusätzlich bekam ich im Juni eine sehr überraschende, aber erfreuliche Nachricht von ihr: „Hi, I muss da no was erzählen, du wirst übrigens Tante“. Anbei hat sie mir noch ein Bild von einem Ultraschall geschickt. Auch das war wahnsinnig aufregend und eigentlich ziemlich schön. Meine kleine Schwester bekommt ein Kind! Wow, das kam unerwartet! Ja, ich merke gerade, dass die Themen rund um meine Schwester vermutlich viel mehr als bloß diesen einen Text in Anspruch nehmen werden. 

Wenn ich sie ansehe, erscheint mir vieles an ihr so fremd. Als sie da war, habe ich ständig versucht das Vertraute in ihrem Gesicht zu entdecken, doch irgendwie ist mir das immer wieder verschwommen und ich konnte es nicht finden. Es ist so vieles an ihr, das mir so unbekannt erscheint. Irgendwie ist es sehr irritierend, diese Ambivalenz zwischen Vertrautheit und Fremdheit, zwischen Nähe und Distanz. Den Gedanken zu integrieren, sie sei meine Schwester, er klemmt auch ein bisschen und passt nicht so richtig in die dafür vorgesehene Ecke. Vieles, von dem sie mir erzählt, ist sehr befremdlich für mich. Einfach ziemlich irritierend. Die Geschichten über Mama, über Oma, die mir mittlerweile so fern geworden sind, aber auch einiger ihrer Sichtweisen und vor allem, wenn sie über den Papa und ihre unsere Kindheit spricht – Irritation. Ich glaube sie irritiert mich so sehr, weil sie an etwas stößt, andockt, an den Stellen, wo ich Brüche gesetzt habe. Dort wo meine Erinnerungen aufhören, sind ihre umfangreich und detailliert. Sie weiß so viel, was ich längst „vergessen“ habe. Wenn sie mir davon erzählt, dann bekomme ich diese Erinnerungen teilweise wieder zu fassen. Es ist als würde eine dunkle Ecke in meinem Kopf plötzlich wieder beleuchtet werden. Das ist heftig, intensiv. Ich spüre es dann beinahe in meinem Gehirn flackern, wenn bei Bildern, nach so langer Zeit, plötzlich wieder ein Licht angeht. Ein bisschen staubig sind diese Einblicke, wie als würde man in einem düsteren Kellerabteil nach etwas suchen, wo rundherum noch Dunkelheit herrscht. In ihrem Leben erscheint alles so integriert, zumindest, wenn man es mit meinem vergleicht. Denn meine Kindheit und frühe Jugend erscheint mir wie ein völlig anderes Leben, lange wie das einer anderen Person, an das ich mich kaum noch erinnern kann. Ein bisschen katapultiert sie mich zurück ins Gestern, mit all ihren Einblicken, mit ihrem gesamten Wesen eigentlich, denn trotz unserer identischen Herkunft sind unsere Wege ganz anders verlaufen und wir ganz anders geworden. Wieder einmal führte sie mir vor Augen (wie sie das auch schon in Kindheitstagen tat), wie hoch pathologisch und einfach extrem seltsam unsere Familie ist. Wie viel Trauma es da gibt und das schon seit Generationen. Auf das Meiste aus ihren Erzählungen werde ich hier erstmal nicht eingehen, weil es einfach zu viel ist, ich es erst einmal verarbeiten muss und es ohne ausführliche Hintergrundinformationen sowieso nicht verständlich wäre. Nur eine Sache möchte ich erwähnen, weil es gerade viel verändert, bei dem, wie ich meinen Vater sehe. Es geht um Paketklebeband, wie er ihr damit den Mund zu geklebt hat und wie er sie damit am ganzen Körper gefesselt hat, wenn sie „laut und schwierig“ war. Da war sie wohl irgendwas zwischen drei und fünf Jahre alt. Verstörend finde ich das und es zerstört meine Wunschannahme, dass Papa erst in den letzten Jahren wurde, wie er ist. Auch heute noch bringt sie mein Konstrukt aus schön geredetem damit ins Wanken. 

Trotzdem, diese Beziehung, die da gerade am Entstehen ist, gerade etwas sehr Kostbares für mich. Sie ist neu und gleichzeitig alt. Mir nah und doch gleichzeitig so fern. Es ist eine Beziehung, die auf Wertschätzung beruht. Dass sie mich nun so offensichtlich in ihrem Leben haben will, ist gerade Balsam für meine Seele. Auch, dass ich wieder eine Schwester habe, wir das vielleicht überhaupt erstmals füreinander sein können, dass wir endlich beide so weit sind und frei von den manipulativen Einflüssen unserer Eltern sind, fühlt sich einfach schön an. Vielleicht ist da so etwas wie eine Familie am Entstehen, eine, von der man sich nicht vollständig abgrenzen muss, um bestehen zu können. Eine ganz neue Generation. Ich habe wieder eine Schwester und ich kann das jetzt auch fühlen. Ihr kann ich endlich diese Gefühle entgegenbringen, denn das konnte ich lange nicht. Meine übrigen ambivalenten Emotionen werden im Verlauf des Kennenlernens wohl weniger werden (oder vielleicht bleiben sie auch ein fester Bestandteil dieser Beziehung), aber sicher ist, triggern wird sie noch viel in mir.

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Paleica sagt:

    es ist immer wieder erstaunlich, wieviele menschen toxische beziehungen zu ihren eltern erleben mussten. wie gut, dass du es offenbar geschafft hast, dich davon zu distanzieren und dass es raum gibt, dass etwas neues entstehen kann.

    Gefällt 4 Personen

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