Die Alltäglichkeit der Übergriffigkeit


Beitrag von Maya
⏱ Geschätzte Lesedauer: 9 Minuten
Beitragsbild von Charly Gutmann on pixabay.com

Einige von euch haben vllt. schon mitbekommen, dass mir das Thema „gewalt- und diskriminierungsarme Umgangsweisen“ sehr am Herzen liegt, nicht nur privat, sondern auch beruflich. Es ist mir eine absolute Herzensangelegenheit, da meine komplexe PTBS und die Traumafolgestörungen auf personelle und strukturelle Gewalt und Diskriminierung zurückzuführen sind. Seit meiner Jugend war ich auf der unerbittlichen Suche nach den Ursachen meiner psychischen Beeinträchtigungen und der meiner Verwandten, Freunde usw. Nach zwanzig Jahren habe ich für mich eine Antwort gefunden. Diese ist nicht in wenigen Worten zu erklären, die Gesamtproblematik ist unglaublich vielfältig, aber in der Lösung nicht aussichtslos.
Daher hier mal wieder ein Artikel zur Prävention von gewalt- und diskriminierungsvollen Denk- und Verhaltensweisen.

Ich möchte heute über ein Thema sprechen, dass viele Menschen im Alltag kaum oder nicht wahrnehmen – das Überschreiten von individuellen Bedürfnissen und Interessen und die Verletzung der persönlichen Integrität (Unversehrtheit).

Unser Recht auf persönliche Unversehrtheit, physisch und psychisch, leitet sich aus einem Menschenrecht ab! Bei uns in Deutschland findet sich dieses im Artikel 1 des Grundgesetzes, das für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter o. a. Merkmalen gilt!

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Quelle: Gesetze im Internet

Ihr wollt noch ein bisschen mehr über die „Würde des Menschen“ erfahren?
Dann lest doch z.B. hier oder hier nach.

Warum das im Zusammenhang mit komplexen PTBS steht?
– weil Ursachen von Entwicklungstrauma durch die vielfältigsten Verletzungen der Würde von Menschen oder anders gesagt, durch Übergriffigkeiten, Gewalt und Diskriminierung, ausgeübt von Menschen und Institutionen, entstehen.

Viele Menschen fragen sich immer wieder, warum sie mit psychischen Einschränkungen leben müssen, können keinen „wirklichen“ Grund dafür ausmachen. Dabei müssen die Ursachen nicht immer in schweren Gewaltverbrechen liegen! Manchmal sind über Jahre vollzogene Verhaltensweisen von Mitmenschen verantwortlich für die Entstehung von psychischen Einschränkungen bis hin zu Erkrankungen.

In meinem Artikel „#Trauma #Corona #GeorgeFloyd und der gemeinsame Nenner“ erwähnte ich bereits den horenden Anstieg psychischer Erkrankungen bei gleichzeitig anscheinend gewaltmindender Entwicklung in unserer Gesellschaft.

Eine tiefgreifend substanzielle, individuelle und gesellschaftliche Entwicklung
zeigt sich bei der allgemeinen Auswertung der »Todesursachenstatistik von 1980 bis 2018«:
Die Todesursache »Psychische und Verhaltensstörungen« haben vom Jahr 1980 bis 2018 um rund 795 % zugenommen.
Quelle:
Statistisches Bundesamt Krankenhauspatienten

Die Ursachen hierfür sind natürlich sehr sehr vielseitig! Ein Buch würde nicht ausreichen, um alle flankierenden Perspektiven mit einzubeziehen. Dennoch gehört eine Ursache dazu, die ich immer wieder gerne in Selbstreflektion und mit anderen Menschen thematisiere:

Wir sind umgeben von sogenannter normalisierter Übergriffigkeit bis hin zu Gewalt.

Warum das so wenig bekannt ist?

Das liegt vor allem daran, dass moralisch fragwürdige Denk- und Verhaltensweisen normalisiert werden. So gehen wir im Alltag oft darüber hinweg, dass uns Sachen verletzen. Immer und immer wieder. Wir sagen uns:
„Ach ist doch nicht so schlimm!“
„Na ja XY hatte halt einen schlechten Tag.“
„Das ist halt so, da darf man auch nicht so empfindlich sein!“

Wir maßregeln uns selbst, unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle. Wir wollen uns anpassen.

Daraus ergibt sich, dass wir die negativen Folgen meist überhaupt nicht mehr sehen.

Worum geht es bei Übergriffigkeit und Gewalt also genau?

Es geht um die Verletzung von persönlichen Bedürfnissen und Interessen oder die Verletzung von persönlichen Grenzen, die die Erfüllung und Umsetzung der Bedürfnisse und Interessen wahren sollen. Grenzen werden hier als sehr variable Konstruktionen verstanden, denn jeder Mensch hat eigene individuelle Bereiche, in denen die Missachtung persönlicher Bedürfnisse und Interessen zur Verletzung der Integrität führen.
Greift eine Person ungefragt und ungewollt in den persönlichen Bereich einer anderen Person ein, wird sie übergriffig bzw. grenzüberschreitend tätig. Da Empfindungen sehr individuell sind, kann die Verletzung persönlicher Bedürfnisse und Interessen sogar als eine Form von Gewalt empfunden werden.

Aber kann dann nicht alles Gewalt sein? Erich Fromm hat sich ausführlich mit dem Phänomen Gewalt beschäftigt und stellte heraus, dass Aggressionen als Verteidigungsmechanismus keine Gewalt darstellen. Wenn Du dich also gegen Übergriffigkeit durch lauten Tonfall, Wegstoßen o. ä. wehrst, lass dir nicht einreden Du wärst gewalttätig! Natürlich spielt auch hier das Maß eine wichtige Rolle! Defensive, verteidigende Aggressionen dürfen nur der Abwehr dienen, nicht eigenständige, von der Abwehr unabhängige Gewalt annehmen.

Quelle: Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt, Reinbek 1977

Ein paar Beispiele bringen vielleicht Licht ins Dunkel. Diese können einleuchtend sein, aber auch irritierende Reaktionen auslösen, da sie als normal empfunden werden.

  1. Ich stehe an der einzigen geöffneten Kasse eines Einkaufsmarktes und möchte die ausgesuchten Waren bezahlen. Die Schlange an der Kasse ist bereits sehr lang und erfordert eine längere Wartezeit. Plötzlich ruft jemand von einer anderen Kasse „Stellen Sie sich bitte auch hier an!“. Ungeachtet der Reihenfolge an der bisherigen Kasse stürmen die Menschen an die neu geöffnete Kasse – Ich bin wieder letzte, da ich nicht so schnell war.
  2. Ein Kind wird von einem Elternteil weinend zu einem Auto gezerrt mit den Worten „Jetzt habe ich aber die Schnauze voll!“.
  3. Ein/e Autofahrer*in drängelt auf der Autobahn hinter einem Auto, in dem ein Elternteil mit einem kleinen Kind auf der Rückbank fährt.
  4. Ein Mensch greift der/dem Beziehungspartner*in ungefragt zwischen die Beine und lacht dabei.
  5. Ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik wird für einen jugendlichen Menschen von der zuständigen Familienhilfe abgelehnt, weil dieser Mensch dann aus dem Zuständigkeitsbereich des Trägers herausfällt und das Geld für diesen Fall wegfällt.
  6. Ein Kind, dass zum Abendessen das vorgesetzte Essen ablehnt und um ein anderes Essen bittet wird dies verwehrt. Die Eltern meinen es wird gegessen was auf den Tisch kommt.

Was ist in diesen Situationen passiert?

Oftmals lösen sie Reaktionen aus, wie z.B.:
„Ist doch nicht schlimm!“
„Ja so ist das nun mal!“
„Sei nicht so empfindlich!“
„War doch ein Kompliment!“
„Kinder haben zu gehorchen!“
usw.

Was steckt hinter den Verhaltensweisen?

Zum einen werden in allen Fällen die persönlichen Bedürfnisse und Interessen der Menschen übergangen. Solche Übergriffigkeit steht im engen Kontakt mit Machtmissbrauch. Der Willen eines Menschen oder im übertragenen Sinne einer öffentlichen Institution wird einem anderen Menschen aufgezwungen und soziale Normen und Werte für ein gleichberechtigtes Miteinander missachtet.

Ein paar Erklärungsansätze:
Unsere Gesellschaft ist seit Jahrhunderten von Gesellschaftsordnungen geprägt, die genau solche Denk- und Verhaltensweisen produzieren und unterstützen und sie als Normalität aufzeigen. Das heißt aber nicht, dass diese gesund, human oder gut sind. Es zeigt nur auf, was Menschen zulassen.
In diesem Moment wird oft eingeworfen, dass wir heutzutage doch in einer demokratischen Gesellschaftsordnung leben und es den Menschen so gut geht wie nie zuvor.

Was also bringt heutzutage diese Übergriffigkeit hervor?

Dafür müssen wir das betrachten, was uns ab unserer Geburt zum Menschen mit bestimmten Denk- und Verhaltensweisen werden lässt. Die Menschen in den beschriebenen Beispielen fehlt es an einem respekt- und rücksichtsvollen Umgang mit sich selbst und anderen, sie folgen einer inneren Normalität, die sich aus einer bestimmten eigens erfahrenen Lebensordnung ergibt.

Vor ein paar Jahrhunderten hätten wir dies vllt. das Recht des stärkeren Menschen genannt, heute ist es eine Ordnung mit neoliberalistischer Gewinner*innen- / Verlierer*innencharakteristik – die von Privilegierten als „gerecht“ tituliert wird. Ihr wisst ja, alle haben die gleichen Chancen, man muss nur wollen, sich halt anstrengen, von Tellerwäscher*innen zu… Na ja ihr wisst was ich meine 😉
Diese Ordnung schleicht sich nun seit ca. zwei Jahrhunderten durch Erziehung, Bildung, Arbeitswelt und Freizeit- sowie Kulturaktivitäten in das ganze Leben der Menschen ein, sollte jedoch eigentlich nur eine ökonomische Strategie zur Gewinnmaximierung von Kapital sein. Ursprünglich!

Ähm – OK – *Reusper*, nicht so gaaanz richtig – mal ganz abgesehen davon, die Anfänge dieser ökonomischen Strategie wurden in einer Zeit der Unterdrückung, also des Feudalismus und des Absolutismus, von Menschen entwickelt, die einfach mal die krassesten Privilegien der damaligen Zeit inne hatten, die sozialisiert wurden mit Normen und Werten voll von normalisierter Unterdrückung und Gewalt.

Nun gut… Zurück zum Thema… Dass sich die neoliberalistische Gewinner*innen- / Verlierer*innencharakteristik bereits in den Werten und Normen der Menschen wiederfinden lässt, ganz unabhängig von einer ökonomischen Tätigkeit, lässt sich an einigen Punkten aufzeigen.

Lasst und doch hier spaßeshalber mal etwas tiefer eintauchen.
Jetzt wird es ein bisschen theoretisch 🙂

Zu den Prinzipien des neoliberalen Marktkapitalismus und des Wettbewerbsprinzips zählen das »Konkurrenzprinzip« (statt des Leistungsprinzips), der »Positionswert« (statt eines »Leistungswertes«) und das »agonale Prinzip« sowie ein sogenannter »Winner-Take-It-All-Markt« (statt eines »All-Take-All-Marktes«). Die Werte und Handlungen der Menschen in den beschriebenen Beispielen an der Kasse, auf dem Parkplatz, auf der Autobahn, in der Beziehung, der Familienhilfe und der Familie waren unterwandert von genau diesen Prinzipien.
Wie genau, möchte ich anhand des Beispiels an der Supermarktkasse erläutern.

Das »Leistungsprinzip« würde besagen, dass das Ziel des Bezahlens der Waren mit der Leistung im Zusammenhang steht, wer sich der Reihe nach an der Kasse angestellt hat. Das hier vollzogene »Konkurrenzprinzip« besagt, dass es nicht wichtig ist, wer sich wann angestellt hat, sondern wer mit seinen ganz persönlichen Eigenschaften als erstes das persönliche Ziel erreichen kann – ohne eine soziale Ausrichtung. Soziale Werte werden nur insoweit eingehalten, wie es unbedingt (rechtlich) sein muss.
Der Eigenwert einer Leistung, der »Leistungswert«, wird abgelöst durch das Streben nach der höchstmöglichen Position, dem »Positionswert«. Den Menschen an der Kasse genügt nicht mehr, durch die Leistung ihres Wartens, nach und nach unter den gleichen Bedingungen wie die anderen Menschen ans Ziel zu kommen. Sie möchten so schnell wie möglich, ohne die weitere Berücksichtigung der anderen Menschen an der Kasse, an ihr Ziel kommen. Ihre angestrebte Position „Waren bezahlen“ oder „so schnell wie möglich nach Hause kommen“ ist ihnen also weitaus wichtiger, als die soziale Norm, die Menschen, die vor ihnen an der Kasse standen, zuerst bezahlen zu lassen oder mit ihnen in eine einvernehmliche Kommunikation zu treten.
Beim »agonalen Prinzip« geht es eigentlich um die Toppositionen und Topverdienste auf dem Markt, die überproportional entgolten werden. Der Verdienst stellt hier den Gegenstandsbereich dar. Was verdient ein Mensch, wenn er als erstes oder so schnell wie möglich an sein persönliches Ziel kommen möchte und dabei soziale Werte und Normen über Bord wirft? Die Skala, deren Inhalt durch dieses Streben steigen soll, wird nicht durch Geld gefüllt, sondern durch den Selbstwert, auch Selbstwertgefühl, Selbstwertschätzung, Selbstachtung, Selbstsicherheit oder Selbstvertrauen. Viele Menschen, die neoliberale Werte und Norme in sich aufgenommen haben und danach leben, sehen im Erreichen ihrer Ziele vor allem eine Selbstwertaufwertung. Sie brauchen dies, um sich gut zu fühlen. Sie befinden sich immer und überall und eigentlich mit jedem Menschen im Wettbewerb. Wie sollte dies auch verwundern, da Kindern von klein auf beigebracht wird, dass sie nur dann liebenswert und wertvoll sind, wenn Sie im Wettbewerb des Alltags etwas Her-Machen: durch den Notenspiegel in der Schule und die ökonomische Ungleichheit in den Berufen, der Drang nach hohen Bildungsabschlüssen oder zum Gewinnen in der Sportmannschaft, bei Wissensolympiaden, die besten oder außergewöhnlichsten Klamotten zu tragen usw. – Selbstwert, Selbstwert, Selbstwert!
Diese Prinzipien lassen sich bündeln in einem sogenannten „Winner-Take-It-All-Markt“. Wenn die sozialen Werte und Normen eines gleichberechtigten Miteinanders beachtet werden, kommt es zu einem »All-Take-All-Markt«. Wir können also in der Regel gleichschnell weiter zur Kasse voranschreiten, mal abgesehen von höherer Gewalt, wie z.B. ein Mensch bezahlt den Einkauf mit Pfennigen und braucht daher länger. Im Gegensatz dazu zählt beim »Winner-Take-It-All-Markt« nur der Erfolg, nicht ob auf dem Weg dorthin soziale Werte und Normen beachtet wurden, wir uns also mitmenschlich verhalten haben. Wenn ein Mensch sich also „durchschlägt“, um an die erste Position der Kasse zu kommen, obwohl andere Menschen bereits vor ihm anstanden sind genau diese Prinzipien des neoliberalen Denkens erfüllt.

Diese Herangehensweise – vom wirtschaftlichen Standpunkt – finde ich manchmal ganz interessant. Natürlich wäre es hier sinnvoll noch die historische oder transgenerationale Perspektive einzubeziehen, aber all dies würde wieder mal den Rahmen sprengen. 🙂

In meinem Artikel „#Trauma #Corona #GeorgeFloyd und der gemeinsame Nenner
habe ich die psychologische Perspektive der Entstehung von Gewaltausübung erläutert.
Schaut dort doch auch mal rein.

Trotz aller Vielfältigkeit von Entstehungsursachen, hat unser sogenanntes „täglich Brot“ entscheidenden Einfluss auf unsere Gefühle, unsere Art der Bedürfnisregulation, unsere Denk- und Verhaltensweisen, es prägt uns langfristig, nicht nur beruflich, sondern auch privat! Dies beeinflusst das Familienleben, den Umgang miteinander, den Umgang von Eltern mit ihren Kindern.

Zusammenfassend kann gesagt werden, wenn Menschen mit ihrem Willen oder zusätzlich mit ihren Ellenbogen andere Menschen wegdrängeln, zu etwas zwingen oder sie überrumpeln, um als erstes irgendwo dran zu sein oder die eigenen Ziele umzusetzen, dann machen sie das, weil sie Erfolg haben und sich gut fühlen wollen. Sie denken, ihnen steht ein solches Denken und Verhalten zu, denn sie hatten bisher Erfolg mit diesen Strategien.

Dies könnt ihr auf jedes der oberen Beispiele anwenden. Bei allen geht es um die Verletzung individueller Gefühle, Bedürfnisse, Interessen – um eine Verletzung der körperlichen Integrität, der Würde von Menschen.

Soviel zu einer Analyse der Situation.

Und jetzt komme ich zu dem vorhin erwähnten Satz –
steht Menschen ein übergriffiges Denken und Verhalten zu?
Die Antwort lautet: Ja – solange das soziale Gefüge, um sie herum, ihnen nicht zu verstehen gibt, dass solche Denk- und Verhaltensweisen eben sch***e sind.

Das Gefährliche an immer weiter und weiter tolerierten, normalisierten Übergriffen ist, dass sie sich immer weiter verbreiten – wie ein Lauffeuer. Kinder erlernen dies von anderen Kindern, von den Jugendlichen und Erwachsenen und geben dies wieder weiter an ihre Kinder. Manche mögen sich hinterfragen und aus erlernten Denk- und Verhaltensweisen befreien, aber das trifft leider nicht auf alle zu.

Wir sind alle Betroffene gewesen und Ausübende von übergriffigem Verhalten. Leider kann sich niemand davon frei sprechen, denn unsere Gesellschaft ist kulturell und historisch gewaltvoll geprägt – und damit auch die Erziehung, Bildung und Sozialisation.

Übergriffigkeit ist also ein alltägliches Phänomen in unseren Gesellschaftsformen – versucht mal eine Woche lang Beobachtungen an euch selbst und anderen zu notieren. Wie ihr diese Übergriffigkeiten dann empfindet, einordnet und darauf reagiert, hängt entscheidend von eurer jeweiligen Sozialisation (Erziehung, Bildung, Umgangsweisen in sozialem Umfeld usw.) ab. Das bedeutet, wie wurde euch in Kindheit und Jugend, im Arbeits- und Freizeitbereich vorgelebt auf solche Situationen zu reagieren?

Sehr viele Menschen würden es wahrscheinlich nicht als übergriffig empfinden, wenn der/die Partner*in einfach so intime Körperstellen berührt: Das ist doch so in Beziehungen; das zeigt doch wie sehr ich gemocht werde!
Mal ganz abgesehen davon, dass es einfach nicht in Ordnung ist einen anderen Körper ungefragt und ohne eindeutige Signale zu berühren, wird Frauen durch unsere Sozialisation bereits von Kindheit an vermittelt, für Männer verfügbar zu sein bzw. das Ziel erreichen zu müssen, einem Mann verfügbar zu sein, um eine „gute Frau“ zu sein. Bei Fragen hierzu wenden Sie sich bitte der nächsten sexistischen Werbepause ihres Lieblingsfernsehsenders zu.

Oder ist es jawohl normal, dass die Kinder unverzüglich mit nach Hause zu kommen haben, wenn die Eltern es sagen!
– Ganz außen vor steht, dass ein Kind bereits in sich geschlossene, logische Abläufe verfolgt und vllt. gerade mitten in einem Spielverlauf war, aus dem es nun unvermittelt herausgerissen wird. Wie würden wir als Erwachsene es wohl finden, wenn wir mitten im spannendsten Teil eines Filmes auf einmal von jemandem herausgerissen werden? Ohne Reden, ohne Kompromisse.

Außerdem können die Menschen auf der Autobahn mit ihren lahmen Krücken jawohl die rechte Autobahnspur benutzen, was müssen die überhaupt überholen!
– Das Menschen mit vollkommen unterschiedlichen Herkunftserfahrungen oder Fahrerfahrungen neben uns auf der Autobahn fahren, ist vielen Menschen nicht bewusst. Rasendes Verhalten kann so z.B. erst zu einer dem Unfall zugrunde liegenden Angst oder Panik führen. So fährt sich die Mutter mit ihrem Kleinkind tot, weil sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug verliert aufgrund eines rasenden, bedrängenden Menschen in einem Fahrzeug – leider nach einer wahren Begebenheit (Artikel findet ihr z.B. hier).


Ich behaupte, jeder Mensch in unserer Gesellschaft hat diese, ähnliche oder andere verbale oder nonverbale Erfahrungen gemacht – auf der Seite der Erfahrenden und auf der Seite der Ausführenden…

Und wenn viele es so machen, dann ist es doch voll OK, also normal – oder?!

Was als normal empfunden wird und was nicht, hängt also von unseren Erfahrungen ab.

Aber nur, weil etwas „immer“ so war und wir es schon „immer“ so erlebt haben, ist es noch lange nicht gut für Menschen.

Beispiele aus unserer Geschichte, die über einen bestimmten Zeitraum einen Normalitätsstandard für viele Menschen darstellten, sind z.B. Hexenverbrennungen oder »Ius primae noctis«, das Recht der sogenannten Gutsherren auf die erste Nacht mit einer verheirateten Frau, der Holocaust, Sklaverei, Verfolgung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung u.a.

Auch wenn es in der Geschichte grausame oder schlimme Zeiten offener Gewalt und Diskriminierung gab, heißt das noch lange nicht, dass wir heutzutage tendenziell einen gesunden Umgang miteinander pflegen.

Die Zahlen lügen leider nicht (z.B. die Statistik zu psychischen Erkrankungen weiter oben). Wir sprechen hier nicht von einer Eintagsfliege oder von bedauerlichen Einzelfällen! Es ist bequem, leicht und feige gewaltvoll zu agieren, zu unterdrücken, nach Macht zu streben und sich bei Erfolg wertvoll zu fühlen. Leider werden die Folgen, die vllt. nicht für unsere Augen sichtbar sind, verheerende Auswirkungen haben. Die Dunkelziffer von Menschen, die unter psychischen Beeinträchtigungen leiden oder psychischen Beeinträchtigungen unterdrücken, ist sehr hoch. Es gibt kaum noch einen Menschen, der nicht eine betroffene Person kennt oder eine Betroffenheit bei einer bekannten Person vermutet. Von den verheerenden persönlichen Auswirkungen auf das ganze Leben hier gar nicht gesprochen, werden die Folgen für die Wirtschaft und das Gesundheitssystem ebenso verheerend sein. Sie sind bereits da und werden sich noch verschlimmern, wenn wir nicht alle ein wenig umdenken bzgl. gewalt- und diskrimierungsvollen Denk- und Verhaltensweisen sowie privilegierten Lebensweisen.

Genauso wie sich in früheren Zeiten Stimmen gegen unmenschliche Denk- und Verhaltensweisen erhoben haben, können auch wir heutzutage unsere Stimmen erheben gegen Übergriffe.

So kann ein Einlenken beim Abendessen aufzeigen, dass es wichtig ist, dass die Bedürfnisse eines Kindes Beachtung finden oder die Empörung von nahestehenden Menschen kann Raser*innen aufzeigen, wie viel Angst sie erzeugen; der Hinweis auf ein soziales Miteinander im Kassenbereich kann dazu führen, dass Menschen sich in ähnlichen Situationen daran zurückerinnern. (…)

All dies kann leise oder laut geschehen – immer wird es andere Menschen erreichen und vllt. in irgendeiner Art und Weise beeinflussen.

Hier findest Du noch einen Artikel, in dem ich vor kurzem bereits etwas zu dieser Thematik geschrieben habe.
Vor allem dazu, was wir tun können gegen normalisierte Gewalt und Diskriminierung.

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