Dankbarkeit & die „Gute Erziehung“


Beitrag von Maya
⏱ Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten
Beitragsbild von Foss Valentine on Pexels.com

Wir sitzen am Tisch und essen ihr Essen. Sie hat sich wie immer viel Mühe gegeben. Sie ist nicht gut gelaunt. Alle Angebote der Hilfe zur Vorbereitung des Essens hat sie abgelehnt. Jeder der hereinkommt sagt, wie toll alles aussieht. Als wir sitzen und essen, sagt jeder mehrfach, wie gut es schmeckt – und dennoch fühle ich diesen Druck, wenn ich ihr mürrisches Gesicht ansehe. Sie fragt wieder, ob es denn allen schmeckt. Und wieder beginnt die Lobhudelei. Als wenn es ein Fass ohne Boden ist, der mit aller Dankbarkeit der Welt nicht zu füllen wäre…

Das gesellschaftliche Konzept der Dankbarkeit ist eines, dass ich seit vielen Jahren argwöhnisch betrachte. Nun habe ich endlich Worte dafür gefunden…

Ich sah diese Woche einen Film und darin hieß es, dass man sich elterliche Liebe nicht verdienen muss, diese sollte immer ein Geschenk sein – bedingungslos.

Ja, das wäre schön.

Und nun die erlebte Realität.

Kinder, ja Menschen im Allgemeinen, haben dankbar zu sein – den Eltern, Verwandten, Erzieher*innen (…) und bestimmten Gesten ggü. Ja, es muss Ihnen in der Kindheit beigebracht werden, damit Sie das Konzept der Dankbarkeit auch ja verinnerlichen und den Rest ihres Lebens adäquat reproduzieren. Ja, ein Therapeut hat mich sogar einmal darauf hingewiesen, dass Kinder Ihren Eltern immer zu Dank verpflichtet seien – egal was diese getan hätten.

Das wird uns vorgelebt.

Schon als Kind fühlte sich all das für mich immer seltsam an. Dankbar sein für Essen, für Wärme, für Spielzeug – für all die Dinge, die so grundlegend wichtig sind für die Entwicklung von Kindern. In Familien mit weniger gewaltvollem Habitus mag das gar kein Thema gewesen sein – bei uns war es ein riesiges Thema, denn Dankbarkeit bedeutete auf der einen Seite die Sicherung von Grundbedürfnissen und auf der anderen Seite eine Aufwertung der Täter*innen.

Aber das ist noch nicht der Kern, zu dem ich vordringen möchte. Die Beziehungskonstellation zwischen Kindern und Erwachsenen ist immer geprägt von Abhängigkeit. Kindern fehlen, je nach Alter, wichtige Ressourcen (z. B. Wissen, körperliche Größe, Geld), um sich alleine und vollumfänglich versorgen zu können. Aus diesem Grund werden Kinder ja auch seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte in familienähnlichen Konstellationen groß gezogen. Die Qualität dieser Konstellationen, dieser Abhängigkeit der Kinder ggü. den unmittelbar vorhandenen Erwachsenen, ist dabei entscheidend. Diese Abhängigkeit kann von gegenseitigem/r Respekt und Empathie gezeichnet sein oder sie wird ausgenutzt vonseiten bedürftiger Erwachsener. Damit meine ich Erwachsene, die da etwas in sich drinnen dringend brauchen und es sich selbst nicht in gesunder Art und Weise geben können – sodass Sie dann Ihre oder Ihnen anvertraute Kinder nutzen, um sich besser zu fühlen.

Erwachsene haben in diesem Sinne Macht über Kinder und wenn diese abhängige Beziehungskonstellation zum Vorteil der Erwachsenen ausgenutzt wird – ob bewusst oder unbewusst – sprechen wir von Machtmissbrauch.

Und genau so hat es sich für mich oft angefühlt. Ich wollte nicht dankbar sein für das Essen und Trinken, was ich nicht gewollt habe und mir aufgezwungen wurde. Ich wollte nicht dankbar sein dafür, dass man mir erlaubte, eine Stunde raus zu gehen, nachdem ich für alle Familienangehörigen Stunden lang die Klamotten bügeln musste. Ich wollte nicht dankbar für die Einschulung auf der Realschule sein, wenn ich doch mitgeteilt hatte, dass ich auf das Gymnasium gehen wollte. Ich wollte nicht dankbar sein für dieses Familienbowlen, als ihr Ersatz für meine Jugendweihe, an der ich nicht teilnehmen durfte und das mir zugekommene Jugendweihegeld, dass sie sich eingesteckt haben. Ich wollte nicht dankbar sein für eine Ausbildung, die sie mir aufgezwungen haben. (…)(…)(…)

Aber ich musste dankbar sein. Immer. Und das am besten mit einem Lächeln.

Als ich mit ca. 18 / 19 Jahren ausbrach aus diesem Dankbarkeitskorsett, zeigte sich ganz schnell, was passierte, wenn ich Ihnen nicht die von Ihnen eingeforderte Dankbarkeit zukommen ließ. Wir haben immer öfter lautstark gestritten. Ich sah es irgendwann gar nicht mehr ein, warum ich mich für Dinge dankbar zeigen sollte, die Eltern ganz selbst verständlich für ihre Kinder tun sollten. Da mein Stillschweigen weniger wurde, zeigte sich die Absurdität in vielen ihrer Forderungen immer mehr.

Statt meine Bedürfnisse ernst zu nehmen, hieß es nun immer wieder, ich sei schwierig und undankbar.

Eine Absurdität, die ich erst vollends begriff, als ich selber ein Kind bekam und viele Dinge wieder erkannte aus meiner Kindheit.

Dem einen Teil meiner Herkunftsfamilie waren materielle Geschenke immer total wichtig. In der Babyzeit erhielt mein Kind so viel „Sch***“ geschenkt, dem wir als Eltern so nie zugestimmt hätten. Dazu gehörte z. B. eine totale enge Lederjacke und ein blinkendes, quietschendes Plastehandy für unser 3 Monate altes Kind. Nun wurde von mir stellvertretend für mein Kind Dankbarkeit erwartet – dabei hätte ich fast alles am liebsten auf den Müll gehauen. Wünsche, die ich geäußert hatte für mein Kind, wurde meistens gekonnt ignoriert. Dann doch lieber schnell während des Aldi Einkaufs auf den Grabbeltischen etwas greifen und gut ist. Und dafür dann auch noch Dankbarkeit verlangen.

Nach dem ersten Jahr kristallisierten sich die Interessen meines Kindes heraus. Da ich bedürfnis- und interessenorientiert begleite, habe ich zu dieser Zeit die erste Online Wunschliste erstellt – ganz unabhängig und mit Links zu möglichen Produkten im Internet. Diese schickte ich an alle Verwandten, wenn ein Geburtstag, Weihnachten o. ä. anstand. Und was passierte? Die Menschen waren wirklich entsetzt, einige leise, andere laut. Nicht weil es zu teuer oder schwer gewesen wäre etwas zu bestellen, sondern einfach nur, weil ich ihrer Meinung nach Forderungen stellte. Letzten Endes lassen sich die Reaktionen in den Sätzen „Man solle doch einfach dankbar sein für die Geschenke, die man erhält!“ oder „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!“ zusammenfassen.

Es war mir egal, ich blieb dabei und bat alle Personen, die meinem Kind etwas kaufen wollten, bitte vorher auf dessen Wunschliste zu sehen. Ein, zwei Personen taten das dann auch wirklich über die Jahre – die meisten verweigerten sich hartnäckig. Das Interessante dabei war, dass vor allem die Menschen sich verweigerten, die auch sonst im Alltag grenzüberschreitend, herablassend und denunziativ unterwegs waren – die also die Bedürfnisse und Interessen von anderen Menschen sowieso nicht ernst nahmen.

Neben diesen materiellen Gütern ging das Konzept der Dankbarkeit natürlich noch viel weiter. Kaum konnte mein Kind einen Keks entgegennehmen, betonten die übergebenden Personen sehr oft das Wort „DAAANNKKKEEE!“ Überhaupt wurde dies fast zu einem Wort der Huldigung der Götter und wenn es nicht laut ausgesprochen wurde, dann fiel das Kind gaaaanz weit in der Gunst – natürlich laut hervorgehoben vor den anderen Familienmitglieder*innen.

Nun, was soll ich sagen, mein Kind galt als seeehr undankbar. Es sagte nur Danke zur Übergabe von Essen oder Trinken, wenn es dieses auch wirklich wollte und nicht aufgezwungen war und packte bereits mit zwei Jahren zu Weihnachten etwas in meiner Herkunftsfamilie aus und verkündete lautstark „Will nicht!“ Ich war stolz auf ihn und die anderen schauten komisch drein. Bis heute entwickelt er sich in dieser Weise weiter, seine psychische und physische Integrität ist stark ausgeprägt und er ist sehr selbst-BEWUSST geworden, was ich als Kind niemals war. Ich bin stolz darauf, dass ich dies als Mensch mit Beeinträchtigungen hinbekommen habe mit meinem Kind.

Zur gleichen Zeit beobachtete ich um mich herum, was diese Indoktrination von Dankbarkeit mit anderen Kindern machte und reflektierte meine Kindheit dahingehend. So wie das Konzept in meinen Herkunftsfamilien gelebt wurde und in vielen anderen Familien bis heute gelebt wird, geht das Gebot der Dankbarkeit einher mit erzwungener Wertschätzung, mit der Unterdrückung oder Verleugnung eigener Bedürfnisse und Interessen. Wenn man immer wieder dankbar sein muss für nicht gewollte Gesten oder Geschenke, um überhaupt akzeptiert oder wertgeschätzt zu werden, beginnt bereits der Prozess des sich Verleugnens. Wenn man in dieser fragilen, sensiblen Umgebung der eigenen Familie nicht zu sich selbst stehen darf – wie soll man dann zu einem Menschen heranwachsen, der in dieser Welt vollends zu sich steht?

Das Konzept der Dankbarkeit wird nämlich in der hier beschriebenen Art oft unter dem Deckmantel der „Guten Erziehung“ einverlangt, ist jedoch eigentlich nur der Garant einer steten Aufwertung des eigenen Daseins durch die Mitmenschen: für mehr Selbstwert und Selbstbewusstsein, Verleugnung eigener Unzulänglichkeiten, der Glaube sich an „das Richtige“ zu halten (…).

Jetzt mögen einige einwerfen, dass Kinder es doch aber nur lernen, in dem man sie immer wieder auf Dankbarkeit hinweist. Und ich sage: Nein, das ist kein gesunder Weg. Kinder lernen vor allem durch „Lernen am Modell“. Alles, was wir ehrlich und authentisch vorleben, ahmen Sie irgendwann nach. Wenn ich mich wirklich von ganzem Herzen dankbar zeige, dann werden sie das irgendwann auch tun, ihrem Alter und Entwicklungsstand entsprechend. Sie schauen sich alles ab, was ihre Liebsten tun – das hat die Natur schon clever eingefädelt – da braucht es keinen weiteren Zwang und Druck.

Und das bedeutet wiederum, dass wir in gesunden Beziehungskonstellationen Dankbarkeit niemals verlangen sollten – zumindest wenn wir mit einem integren und dahingehend gesunden Menschen eine Beziehung führen wollen. Wenn wir es dennoch tun, sind wir alle gut damit beraten in uns hineinzuschauen und zu erforschen, was da in uns gerade Aufmerksamkeit braucht – und zwar von uns selbst und nicht von anderen. Und wenn jemand von uns Dankbarkeit verlangt, dann wünsche ich mir für uns alle, dass wir die Kraft haben zu erfühlen, ob diese Dankbarkeit authentisch gefühlt wird und wenn nicht, dass wir das genauso nach außen spiegeln können.

Ich wünsche mir eine gesunde Art von Dankbarkeit im zwischenmenschlichen Miteinander.

Ich möchte nur noch aus einem Grund dankbar sein – aus vollem Herzen, weil ich es wirklich fühle und BIN.

5 Kommentare Gib deinen ab

  1. lachmitmaren sagt:

    Ja, wenn Dankbarkeit VERLANGT wird, dann spürt man irgendwann als Kind, dass da etwas nicht stimmt. Als kleines Kind hat man meist noch kooperiert, weil kleine Kinder in aller Regel von Natur aus empathisch sind, und noch unmittelbar die Not der Erwachsenen spüren können, die hinter solchen Forderungen und Wünschen steckt. Wenn man größer wird, sieht man dann irgendwann seine Aufgabe sehr viel weniger darin, seinen Eltern die Wertschätzung und Anerkennung zu schenken, die diese in ihrer eigenen Kindheit schmerzhaft vermisst haben. Und beginnt stattdessen, in Opposition zu ihnen zu gehen.
    Aber für viele Eltern sind ihre Kinder sozusagen der „Strohhalm“, über den sie versuchen, das zu erhalten, was ihnen selbst in ihrer Kinder- und Jugendzeit so sehr gefehlt hat. Gleichzeitig wollen sie ihnen meist unbedingt das geben, was sie selbst gerne bekommen hätten. Vielleicht haben deine Verwandten zum Beispiel als Kind stets davon geträumt, mal ein Geschenk zu bekommen, das eine echte Überraschung darstellt – und ersichtlich nicht danach ausgewählt wurde, ob es irgendwie „nützlich“ ist.

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  2. heyatawin sagt:

    Interessanter Aspekt. Immanuel Kant hat geschrieben, dass Kinder ihren Eltern nicht zu Dank verpflichtet seien, weil es die Entscheidung der Eltern gewesen sei, sie in die Welt zu setzen.

    Das habe ich mir auch oft gedacht: Ich habe nicht danach gefragt geboren zu werden. Wenn man ein Kind bekommt, ist es selbstverständlich sich darum zu kümmern. Punkt. Ende. Keine Diskussion.

    Für solch bedingungslose Liebe könnte man dann auch leichten Herzens dankbar sein.

    Was du erlebt hast, ist die Ausnutzung deiner kindlichen Abhängigkeit um Liebe zu erpressen.

    Ich glaube, es ist gar nicht so selten, das Eltern Kinder bekommen um selbst geliebt zu werden. Eine unerträgliche Last für ein Kind.

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    1. maya_von_traumaleben sagt:

      💛

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  3. Ich wurde als Kind auch immer als undankbar gegeißelt, vor allem von meiner Tante und den Großeltern väterlicherseits. Was das mit mir gemacht hat?
    Einerseits rationale Empörung: Sie verlangen Dankbarkeit, wenn sie mir etwas zu essen geben? Würden sie mich hungern lassen, wäre das ein Verbrechen. Sie verlangen also Dankbarkeit dafür, dass sie keine Verbrecher sind?
    Andererseits emotionale Schuldgefühle: Weil ich scheinbar nicht in der Lage war, so zu sein, wie ich „sein sollte“. Ich war falsch. Und das wirkt bis heute nach, dagegen kommt der Verstand allein nicht an. Die Mitglieder meiner Herkunftsfamilie sind inzwischen alle tot, dafür fühle ich mich jedem Menschen, der mir begegnet (irrwitzigerweise sogar Figuren in Computerspielen), gegenüber schuldig, sobald meine Bedürfnisse mit denen der anderen kollidieren.
    Wenigstens habe ich es geschafft, keine diesbezüglichen Ansprüche an meine Töchter zu stellen. Die sind mir komischerweise dankbar, und dafür bin ich sehr dankbar.

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    1. maya_von_traumaleben sagt:

      Liebe Angela, vielen Dank für Deine Worte, dass Du Deine Erfahrungen mitteilst… Ich finde mich so sehr darin wieder. Wenn Du mal etwas Längeres dazu niederschreiben und veröffentlichen möchtest, schreibe uns gerne…
      Alles Liebe Maya

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