
Beitrag von Maya
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Beitragsbild von Gerd Altmann auf Pixabay
Intro
Alle Beiträge zum Thema Corona / Covid-19 und Leben mit psychischen Erkrankungen & Behinderungen:
- Menschen 2. Klasse? / 22. Juni 2020
- Weil es uns ALLE angeht (oder) wie Menschen Betroffenheit verleugnen / 02. Juli 2020
- Die Tür wieder schließen / 20. Oktober 2020
- Schwindende Solidarität in Coronazeiten!? / 05. November 2020
- Solidarisch durch die Corona-Zeit / 07. November 2020
- Veränderungen & Sehnsucht nach Beständigkeit / 27. November 2020
- Die Ampel: Dynamik in Corona-Zeiten & zu jeder Zeit / 29. November 2020
- Offener Brief zur Diskriminierung, zum Ausschluss und zur Diffamierung von Menschen mit psychischen Behinderungen während der Corona-Pandemie / 15. September 2021
- Dear Mister Bundespräsident /22. September 2021
- All die Dinge, die erschöpfen / 03. Oktober 2021
- Versagung von Maskenbefreiung und Behinderung / 06. November 2021
- Ableismus – oder die blinden Flecken in linken Szenen / 01. März 2022
Offener Brief zur Diskriminierung, zum Ausschluss und zur Diffamierung von Menschen mit psychischen Behinderungen während der Corona-Pandemie
Seit eineinhalb Jahren erlebe ich Diskriminierung, Ausschluss und Diffamierung aufgrund einer psychischen Erkrankung, so wie viele andere Betroffene psychischer Erkrankungen. Ich habe eine Behinderung aufgrund von Gewalterfahrungen in meiner Kindheit und leide bis heute unter einer komplexen PTBS, auch bekannt als Trauma oder Entwicklungstrauma, mit verschiedenen Trauma-Folgestörungen. Dazu gehören z. B. rezidivierende Depressionen sowie Angst- und Anpassungsstörungen. Durch die Gewalt, die mir, meinem Körper über 15 Jahre in meiner Kindheit und Jugend angetan wurde, leide ich bis heute unter einer sehr sensiblen Körperwahrnehmung. Grenzüberschreitungen oder Einschränkungen meines Körpers führen zu starken psychosomatischen Erscheinungen: Ich bekomme keine Luft und Panikattacken bis hin zum Verlust der Sprach- und Bewegungsfähigkeit.
Heute bin ich 38 Jahre alt und habe ein fünfjähriges Kind. Seit zwanzig Jahren arbeite ich daran zu genesen. In dieser Zeit habe ich eine halbjährige stationäre Therapie, zwei teilstationäre Therapien, eine einjährige Verhaltenstherapie, eine zweijährige tiefenpsychologische Therapie und eine zweijährige Traumatherapie hinter mich gebracht. Um gesund zu werden, habe ich sogar den Kontakt zu meiner gewaltausführenden Familie aufgegeben und lebe heute ohne Familie. Man kann also nicht sagen, dass ich nicht gesund werden möchte. Nein, das möchte ich unbedingt. Aber manche Traumafolgen werden vielleicht niemals ganz heilen. Es gibt Erfahrungen, vor allem in der Kindheit, die vergisst ein Körper nicht und ich werde wohl bis an mein Lebensende mit manchen Folgen leben müssen. Zu einigen Folgen gehört z.B., dass ich in Armut lebe, da ich ALGII erhalte. Es gibt z. B. keine inklusiven Arbeitsbedingungen, die auf Menschen mit psychischen Erkrankungen zugeschnitten wären – mal ausgenommen von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und ein paar Versuchen Menschen mit psychischen Behinderungen niedrigschwellig (und total unterbezahlt) in das System zu integrieren. Aus diesem Grund engagiere ich mich seit längerem für Menschen mit psychischen Erkrankungen, z. B. mit Hilfe des Projektes „Traumaleben“ und stehe mit Betroffenen im Austausch.
Durch meine Behinderung kann ich keine eng anliegende Maske tragen – ich bekomme dadurch Atemnot und Panikattacken. Aus diesem Grund habe ich eine ärztliche Befreiung von der Maskenpflicht. In den letzten eineinhalb Jahren habe ich – soweit es mir gesundheitlich möglich war – versucht unter einer ständigen Beachtung der Abstandsregelungen eine gesundheitliche Sicherheit zu gewährleisten. Leider waren Ausschluss aus Geschäften, also öffentliche und laute Aufforderungen zum Verlassen von Einkaufsläden und einer damit verbundenen öffentlichen Demütigung und Denunzierung allzu oft begleitende Umstände. Dazu gehörten z. B. offene Anfeindungen von Verkäufer*innen, anderen einkaufenden Mitmenschen oder von anderen wartenden Patient*innen in Arztpraxen. Eine Anzeige bei der Polizei aufgrund einer sehr schlimmen öffentlichen Demütigung bei einer Fielmann-Filiale wurde nach einer Woche einfach von der Polizei gelöscht – mit der Aussage, dass solche Anzeigen hier nicht mehr entgegen genommen werden. Ich hatte in dieser Zeit mehrere Nervenzusammenbrüche und eine sehr lange und schwere depressive Episode, die lebensgefährdend war. In diesen Monaten konnte ich nicht einmal mein Kind betreuen, so dass es bei dem Vater wohnen musste.
Selbst mit ärztlicher Bescheinigung werde ich bis heute in einigen Geschäften nicht toleriert. Ich kann kaum ein Geschäft betreten, ohne dass ich von mehreren Menschen angestarrt werde, auch mit meinem fünfjährigen Kind. In einer Eisdiele wollte man mir und meinem Kind in dieser Woche, trotz ärztlicher Bescheinigung, kein Eis verkaufen. Ich musste vor allen anwesenden Personen (Verkäufer*innen und mehreren Kunden) erläutern, dass ich eine psychische Erkrankung habe und eine Panikattacke bekomme, wenn ich eine Maske aufsetze, um doch noch ein Eis kaufen zu können. Diese öffentlichen Demütigungen und der Zwang, meine psychische Erkrankung vor unbekannten Menschen offen darzulegen, um weiterhin teilhaben zu können, gehören für mich mittlerweile leider zum Alltag.
All diese Situationen führten nun zur Ausbildung einer neuen Angststörung. In Situationen, in denen eine Maskenpflicht vorherrscht, reagiert mein Körper seit ein paar Monaten immer wieder mit unkontrollierbaren Zuckungen, die einer Tic-Störungen ähneln. Ich kann dies nicht beeinflussen und werde noch mehr angestarrt.
Zu dem Leben mit diesen ständig vorhandenen Einschränkungen kommt nun eine mein gesamtes Leben einschränkende Situation hinzu: die G2-Regel der Coronamaßnahmen, d. h. nur Geimpfte oder Genesene haben Zutritt zu Gastronomie, Kulturveranstaltungen usw.
Da ich durch die Gewalterfahrungen in meiner Kindheit, Eingriffe in meinen Körper nur bis zu einem gewissen Grad ertragen kann, ist es für mich nicht möglich, eine Coronaschutzimpfung vornehmen zu lassen. Weitere Details zu den Gründen möchte ich gerne für mich behalten, da sie meinen Körper betreffen und sehr privat sind. Das heißt, zu den Gründen gehören keine Verschwörungstheorien, keine grundsätzliche Ablehnung von Coronamaßnahmen oder eine unsolidarische Einstellung. Der Grund ist meine Behinderung. Menschen mit solchen Einschränkungen werden seit eineinhalb Jahren von sehr vielen Menschen, ja sogar von der Regierung, nicht gesehen. Diese Art der Diskriminierung, des Ausschlusses und der Diffamierung von Menschen mit psychischen Behinderungen nennt man „Ableismus“ – Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Die Einschränkungen, die bereits psychisch gesunde Menschen in Coronazeiten durch Sicherheitsmaßnahmen durchleiden müssen, sind leider lange nicht so schlimm, wie die erlittenen Einschränkungen von psychisch Erkrankten. Aber Betroffene werden nirgendwo gehört. Wir haben keine Lobby. Es wurde leider versäumt, flächendeckend und öffentlichkeitswirksam über die Legitimität von Ausnahmeregelungen von Maskenpflicht und Impfungen zu sprechen. Wir als Betroffene werden ohne diese Aufklärung als Coronaleugner*innen oder Verschwörungstheoretiker*innen abgestempelt. Stellen Sie sich vor, jeden Tag diese Blicke ertragen zu müssen und an keinerlei gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen mehr teilnehmen zu können.
Durch die immer weiter voranschreitenden 2-G-Regel werden Menschen, wie ich, immer weiter von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen und isoliert. Erkrankungssymptome werden stärker und der Hilfebedarf für Betroffene größer.
Und leider bin ich kein Einzelfall. Es gibt viele Betroffene.
Kinder, die in dieser Gesellschaft mit physischen und emotionalen Misshandlungen und anderen Formen der Gewalt aufwachsen müssen, verschwinden nicht von der Bildfläche, sobald Sie erwachsen sind! Gesellschaftliche Institutionen sind eigentlich in der Pflicht betroffenen Kindern zu helfen. Leider wird dies viel zu oft versäumt. Wir als Betroffene leiden zum großen Teil unser Leben lang unter diesen Versäumnissen und tragen die Folgen. Neben den für uns normalen Lebensbedingungen mit psychischen Erkrankungen, erhöhten Suizidraten, geringeren Chancen der Teilhabe und Armut, kommen nun all diese gravierenden coronabedingten Einschränkungen auf uns Betroffene zu.
Dadurch, dass ich Mutter eines fünfjährigen Kindes bin, überträgt sich diese Gesamtsituation auch auf mein Kind. Es bekommt all dies mit und wird ebenfalls von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.
Nun steht ein neuer Herbst und Winter bevor. Ich habe eine Woche voller Panikattacken und einer beginnenden depressiven Episode hinter mir. Wie werden die nächsten Monate mit all den Einschränkungen und Anfeindungen von Mitmenschen werden?
Meine Kräfte sind erschöpft nach diesen neunzehn Monaten und all den Erfahrungen mit uninformierten Mitmenschen sowie rigorosen Coronamaßnahmen, die zu immer wiederkehrender Diskriminierung, Ausschluss und Diffamierung führen.
Durch die 2G-Regel, die Maskenpflicht in Verbindung mit einer versäumten umfassenden gesellschaftlichen Aufklärung zu der Legitimität von Maskenbefreiungen sowie der Abschaffung von kostenfreien Coronavirus-Tests, die sich sehr viele Betroffene aufgrund der hohen Armutsrate nicht leisten können, werden Menschen mit psychischen Erkrankungen noch weiter von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Es gibt in Deutschland rund 17,8 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen (DGPPN) – wir sind keine unbedeutende Minderheit und im Rahmen der Menschenrechte haben wir ein Recht auf Teilhabe. All dies und die allgemeine Verschlechterung der psychischen Gesundheit bei nicht von psychischen Erkrankungen betroffenen Menschen wird fatale Folgen für das Gesundheitssystem, die Wirtschaft, das Sozialhilfesystem, die Familien und die darin lebenden Kinder haben.
Daher bitte ich um mehr Verständnis, solidarische Umgangsweisen und um öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zur Aufklärung.
Mit freundlichen und solidarischen Grüßen
Zusätzliche Informationen erhalten Sie auch auf der Website: https://traumaleben.blog/
Aktion: Solidarisch durch die Corona-Zeit
- Frei zugängliche Informationsmaterialien (Flyer usw.) zur Sensibilisierung und Aufklärung zu den Lebensbedingungen von Menschen mit psychischen Einschränkungen, Erkrankungen und Behinderungen während der Corona-Pandemie
- https://traumaleben.blog/aktion-solidarisch-durch-die-corona-krise/
Artikel auf der Website Traumaleben
- Menschen 2. Klasse?
https://traumaleben.blog/2020/06/22/menschen-2-klasse/ - Weil es uns ALLE angeht (oder) wie Menschen Betroffenheit verleugnen
https://traumaleben.blog/2020/07/02/weil-es-uns-alle-angeht-oder-wie-menschen-betroffenheit-verleugnen/ - Die Tür wieder schließen (Corona und Depressionen)
https://traumaleben.blog/2020/10/29/die-tur-wieder-schliesen/ - Schwindende Solidarität in Zeiten von Corona!?
https://traumaleben.blog/2020/11/05/schwindende-solidaritat-in-zeiten-von-corona/ - Das Gefühl, nicht Dasein zu dürfen
https://traumaleben.blog/2020/11/12/das-gefuhl-nicht-da-sein-zu-durfen/ - Veränderungen und die Sehnsucht nach Beständigkeit
(Einsamkeit in Zeiten von Corona)
https://traumaleben.blog/2020/11/27/veranderungen-und-die-sehnsucht-nach-bestandigkeit/
Kontaktaufnahme über die E-Mail-Adresse:
maya_von_traumaleben@gmx.de
Der offene Brief kann gerne überall frei geteilt werden, mit Angabe der Quelle bzw. Verlinkung und ohne Änderungen.
Auszug der Adressaten diesen offenen Briefes:
Bundespräsident; Bundesminister für Arbeit und Soziales; Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz und für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen; Bürgerbeauftragter M-V; Oberbürgermeister Rostock, Senator für Jugend, Soziales, Gesundheit und Schule; Behindertenbeirat Rostock (…)
Es ist wirklich unsäglich, wie mit diesen sogenannten „Schutzmaßnahmen“ im „Namen der Gesundheit“ wissentlich die Gesundheit so vieler Menschen zerstört wird. Die gesundheitlichen Folgen dieser „Schutzmaßnahmen“ sind bekannt. Ihr mangelnder Nutzen auch (und das hat nichts mit „Verschwörungstheorien“ zu tun, auch dieser Begriff ist unsäglich. Genauso, wie nur wenige die Kritiker „leugnen“, dass das Virus gefährlich sein kann, so dass der Begriff „Coronaleugner“ unsinnig ist.) Kritiker wie ich sagen aber sehr deutlich, dass die ergriffenen Maßnahmen aus unserer Sicht völlig kontraproduktiv und schädlich sind. Und unglaublich viel Leid verursachen!!! Ich persönlich möchte, dass die Entscheidungsträger ihre Verantwortung für das Leid, das sie (insbesondere auch bei Jugendlichen, sowie bei allen Menschen, die es immer schon schwerer hatten!) verursachen, sehen und übernehmen! Statt mit Schlagworten und Diffamierungen und dem Frame der „Solidarität“ aktiv, wissentlich und willentlich die Gesellschaft zu spalten.
Dass man plötzlich gezwungen wird, vor wildfremden Menschen, die das überhaupt nichts angeht, ärztliche Diagnosen offen zu legen, ist aus meiner Sicht ein absolutes no go. Aber leider machen die meisten Menschen einfach mit.
Alles Gute für dich!
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