(Illusions-)Verluste & neue überraschende Wünsche – Eine E-Mail an meine Therapeutin


Beitrag von Tina
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Ich bin gerade in der Stadt (Z.), in der ich meine Jugend verbracht habe. Die Rückkehr und der Kontakt mit Menschen aus dieser Zeit hat einiges in mir ausgelöst. Daher hat meine Therapeutin vor ein paar Tagen diese E-Mail bekommen. R. ist ein kleiner Ort im bergigen Umland der Stadt Z., in dem die Eltern meiner liebsten Freundin wohnen und wo ich gerade unterkomme. Zusätzlich kommt auch meine Mutter aus dieser Gegend. Ich weiß nicht, ob die Mail inhaltlich verständlich ist, da ich noch nicht so viel von mir hier preisgegeben habe, aber ich möchte sie dennoch teilen, weil gerade so unheimlich viel passiert.

Liebe Frau Therapeutin,

In den letzten Tagen ist viel passiert, schon nach der Therapiestunde am Freitag hat sich einiges in mir neu geordnet, vieles hat sich bewegt und dann bin ich nach [Z.] gefahren, was noch viel mehr auslöste. Das hier ist eine ziemlich lange Mail geworden, mit doch recht seltsamen Wendungen und ich hoffe, mein Körper wird bald wieder etwas ruhiger.

Nach der Stunde am Freitag wurde mir klar, dass ich so lange versucht habe in Freundschaften alles zu finden. Alles, was mir fehlt und noch viel mehr. Es sollte mein Familienersatz sein. Langsam nun wird der Gedanke immer lauter, Teile davon in einer Partnerschaft zu finden. Eigentlich war es das erste Mal in meinem Kopf so, dass es als eine echte Möglichkeit erschienen ist. Keine eigentlich unvorstellbare Sache. Die Scham diesen Wunsch nach außen zu tragen, war bisher immer zu groß, das konnte ich mir einfach nie erlauben. Nach so langen verzweifelten Versuchen, nach so viel Idealisierung und hilfloser Haltsuche, komme ich nun auf das, was sich die meisten anderen ganz selbstverständlich denken. Ich hatte nur so Angst davor, vor romantischen Beziehungen, vor Nähe, wohl auch vor Männern und vor Verlusten, die man mit Freundschaften besser umgehen kann, da die Brüche meist weniger hart sind, dachte ich. Natürlich war ich dann sehr aufgeregt wegen [Z.], wegen O. sehr sogar, da war viel illusorisches Hoffen, aber irgendwo muss ich ja anfangen, um dem (Partnerschafts-)Thema die Unmöglichkeit zu nehmen, die Unvorstellbarkeit. So wie ich die Schwelle irgendwann einfach übertreten musste und Ihnen von meinem Plan mit der Psychotherapieausbildung erzählt habe, damit es endlich einmal im Raum steht und nicht mehr hinter verschlossenen Türen verborgen ist. 

Ich war so wahnsinnig aufgeregt, vor dem Treffen mit O. am Samstag. So euphorisch, so aufgekratzt, aber auch richtig unangenehm nervös mit Durchfall und allem. Weil ich so sehr wollte, dass es eine gute Zeit wird und weil ich irgendwie wusste, dass ich danach mehr wissen werde. Denn es war geplant, dass [meine liebste Freundin] da etwas nachfühlen wird, mit, wie ist das denn so mit deiner Sexualität, da es sich anbietet, indem sie zuerst von sich erzählt. Das hat auch funktioniert. Es war ein sehr ereignisreicher Nachmittag der bis in die späte Nacht hineinging. Ich werde versuchen mich kurz zu fassen, denn es war ein sehr langer intensiver Abend mit vielen intimen Gesprächen. Um auf den Punkt zu kommen, irgendwann im Verlauf des Abends fing [meine liebste Freundin] dann mit dem Sexualitätsthema an und begann dann beim O. nachzufragen. Im Grunde ging es in dem Gespräch um die Frage, ob er sich eher in Personen verliebt oder ob die Anziehung zu einem bestimmten Geschlecht eine übergeordnete Rolle spielt. Letzteres ist bei ihm der Fall und es sind die Männer, schon immer eigentlich. Ich wurde sehr ruhig im Zuge dieses Gespräches. Ich wollte weg, mein Körper wollte verzweifeln, denn das war eindeutig und meine Hoffnungen wurden damit zerschlagen. Doch ich habe dann beschlossen bei ihnen zu bleiben, denn ich wollte noch immer den schönen Abend, der er auch schon gewesen ist. Irgendwie habe ich dann einfach begonnen von mir zu erzählen, über Schmerz, über die Mädels, über Onkel und Tante. Über meine Mutter, über meinen Vater. Über Missbrauch und über verschiedenste Schwierigkeiten, unterschiedlichste Erlebnisse in der Kindheit, Jugend und im Heute und er hat unter anderem von seinem Vater erzählt. Irgendwann kam ich dann auch auf das Thema Partnerschaft zu sprechen und dass ich mir das wünsche, das habe ich ausgesprochen ohne eine Spur von Scham. Er meinte daraufhin überrascht, dass ich doch mal sagte, dass ich keine Beziehung möchte und ich war überrascht, dass er das noch weiß nach so vielen Jahren, die es her ist, als ich ihm das erzählt habe. Es war so schön, aber auch bitter, mit ganz viel Offenheit, denn als ich das wusste, dass ich mir da definitiv keine Hoffnungen mehr machen kann – von diesem Zeitpunkt an – hatte ich auch nichts mehr zu verlieren, also konnte ich ganz einfach auch ich selbst sein. Da war kein Drang mehr um jeden Preis gefallen zu müssen, meine „einfache-problemfreie-wasauchimmer“ Fassade konnte damit fallen. Es ist sowieso ein Blödsinn, merke ich nun, immer zu versuchen jemand zu sein, der ich nicht bin. Wozu diese Anstrengungen? Sie waren schon immer lange sinnlos. Alles, was ich damit erreiche, ist eine Vermeidung von Verbundenheit. Ich weiß nicht, irgendwie wurde die Last, diese Fassade tragen zu müssen, in den letzten Tagen ein ganzes Stück leichter, irgendwie habe ich begriffen, dass ich das nicht muss, dass ich das bei den richtigen Menschen gar nicht brauche und vielleicht ist es mir auch ein Stück weit egaler geworden, was die Menschen von mir denken. Als wir uns spät abends dann verabschiedeten und ins Auto stiegen, war ich sehr wortkarg und ganz seltsam nüchtern. Da war ganz viel, was sich in mir bewegte, aber was ich fühlte, war nicht zu benennen. Ich weiß, was ich wissen wollte und mein verzweifeltes Tasten nach Halt, was gerade so eine tiefe Sehnsucht in mir ist, war ein Griff ins Leere. Aber vielleicht war die Suche nach Halt auch gar nicht so vergebens gewesen. Irgendwie habe ich ihn ja trotzdem gefunden bei ihm, für Momente, wenn auch in einer anderen Form, als ich mir das gewünscht hätte. Schlussendlich wusste ich es ja doch, dass dieses Hoffen ein sehr verzweifeltes war, eines, dass wenig reale Bezüge hat, eine Hoffnung, die aus einer schmerzhaften Sehnsucht und der Angst vor der Einsamkeit so sehr gestärkt wurde. Es war ein letzter Versuch nicht auf mich zurückzufallen, ein letztes greifen nach Illusionen, die mich halten sollten. 

Am nächsten Tag bin ich dann aufgewacht und nach einigem Grübeln kam ich zu dem Schluss: Ich will ein Auto oder einen Hund. Lieber ein Auto. Ich habe gerade (fast) niemanden mehr, gefühlt nichts hinter mir stehen. Kaum Halt, keine Familie, die mich hält. Von [meine liebste Freundin] fühle ich mich gerade sehr abhängig, das ist zwar auch schön, aber es fühlt sich zunehmends schlechter an. Ich möchte das nicht. Es ist auch so unangenehm immer die „Waise“ zu sein, die auf die Gunst von anderen Familien angewiesen ist, dass sie mich aufnehmen, dass ich wo unterkommen kann, so wie hier jetzt in [R.]. Ich fühle mich überall immer so, als gehöre ich nicht hier her. Ich möchte mich nicht mehr so fühlen, so auf andere angewiesen. Ich möchte mehr als das hilflose, abhängige Mädchen sein. Wirklich, das möchte ich einfach nicht mehr, so unausweichlich abhängig zu sein. Ich möchte mich halten, ich möchte meine Mobilität zurück, ich möchte leben und nicht mehr nur die ganze Zeit irgendwie zu Hause ausharren. Bloß darauf warten, dass es besser wird, aber das wird es nicht von alleine. Ich möchte genug sein, mir selbst und anderen. Ich möchte etwas bieten können, mir selbst und anderen. Ich möchte etwas für mich, etwas, das mir gehört. Etwas, das ich mir ermögliche. Da ich keine Familie mehr habe, kein Netz mehr hinter mir, möchte ich nun wenigstens ein Auto. Ich möchte die Freiheit, die Unabhängigkeit und die Mobilität, die mir ein Auto ermöglichen könnte. Ich möchte wieder aufstehen aus der Versenkung, mit eigener Kraft, wieder am Leben teilnehmen und ich möchte mir das ermöglichen. Niemand wird mich retten, das wird nicht passieren, nicht wirklich, nie ganz, denn schlussendlich muss ich die Schritte am Boden selber gehen (oder mit dem Auto fahren). Ich kann nicht ständig und immer gestützt werden, das fühlt sich nicht gut an, nicht frei, nicht unbeschwert und führt irgendwann meist zu Problemen. Ich muss wieder mehr lernen alleine zu laufen. Ich will sie so sehr zurück meine Freiheit, mein Leben und meine Mobilität und deswegen das Auto. Irgendwie muss ich damit anfangen und das fühlt sich wie ein erster, wichtiger Schritt an. Auch weil es eine Herausforderung ist, auf so vielen Ebenen, weil es nicht gerade vernünftig ist, da ich nicht die Sicherheit habe mir das leisten zu können (& meine Fahrerfahrung ist auch sehr eingerostet). Aber ich glaube manchmal muss man Dinge tun, die mit einem „Risiko“ verbunden sind und die nicht mit Sicherheit reibungslos funktionieren werden. Ich habe mich in den letzten Jahren in sichere Watte verpackt, mich irgendwo ziemlich eingesperrt und eingeschränkt damit, das war mein Preis für diese „Sicherheit“. Auf Dauer ist das nicht gut, der Preis ist zu hoch und es war ohnehin ein Gefühl, das auf Illusionen gebaut wurde. Ich will nicht mehr so „vernünftig“ sein und ich will nicht mehr alles kontrollieren. Meine Träume will ich mir wieder selbst erfüllen und auch meine Bedürfnisse zu großen Teilen selbst stillen können. Wie damals auf der Reise, diese Autonomie und Selbstwirksamkeit möchte ich wieder haben. Den Halt, den ich so verzweifelt gesucht habe in anderen Menschen, habe ich nicht gefunden (mit kleinen Ausnahmen) deshalb möchte ich jetzt ein Auto. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich mich mal mit so materiellen Mitteln auffangen werde, aber es ist in letzter Zeit – eigentlich in meinem ganzen Leben – so viel passiert, von dem ich nie gedacht hätte, dass es passiert. Ich weiß, dass ich mich damit trösten will, weil ich so vieles nicht haben kann, keine Familie, keine Ersatzfamilie mehr und den O. nicht als Partner, deshalb will ich jetzt wenigstens ein Auto. Vielleicht sind die Gründe für diesen Wunsch ziemlich erbärmlich, aber mir ist das egal. So ist es nun mal. Ich möchte die Freundin sein, die ein Auto hat, die Frau, die Cousine mit dem Auto. Ich will das, ohne einen Papa, der mich dabei unterstützt, mich dabei berät oder irgendein anderer Mann. Ich will FreundInnen besuchen könne, die nicht in [meiner Stadt] wohnen, die M. ohne auf Onkel und Tante angewiesen zu sein, meine Schwester, die auch ganz wo anders wohnt und kaum mit öffentlichen Verkehrsmittel erreichbar ist und später auch meine Nicht oder meinen Neffen. Ich möchte Ausflüge machen können, spontan wandern gehen können z.B. und einfach weniger Ausreden haben, um das Leben zu genießen. Ich möchte nicht die gebrochene Frau sein, die fast nichts mehr kann, denn so fühle ich mich zurzeit. Es gab so viele Dinge in den letzten Jahre, die wir nicht gemacht haben, weil es niemanden im näheren Freundeskreis mit einem Auto gab. Auch in Neuseeland schon wollte ich mir eigentlich ein Auto kaufen, aber ich habe es dann doch nicht getan. Das war eine „Vernunftsentscheidung“. Ich habe es bereut. 

Man glaubt immer man hält das nicht aus, das mit den Mädls (ich habe mal zu ihnen gesagt, dass ich nicht damit leben könnte, würde dieses Freundschaftsnetz zerbrechen), das mit Onkel und Tante und nun auch das mit O. (obwohl das ist etwas anderes), man glaubt man zerbricht daran, aber man hält es doch aus. Denn nichts war so erschütternd, wie das mit meinem Vater. Bei weitem nicht. Es fühlt sich oft an wie ein ertrinken im Leben und ich bin definitiv tiefer gesunken durch all die Ereignisse in diesem Jahr, aber man ertrinkt ja doch nicht. Sehr oft hatte ich das Gefühl am Boden angekommen zu sein in den letzten Monaten. Irgendwie ein schlechtes Gefühl, aber vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht. So vieles ist weggebrochen, so vieles ging verloren, übrig geblieben bin dabei ich, die trotzdem noch hier steht und sich nun oft so alleine fühlt. Das gute ist, ich habe nicht mehr so viel zu verlieren und ich bin auf einem Boden gefallen, da es, ich würde sagen, kaum noch Illusionen gibt, die mich tragen, aber immerhin ist da ein Boden und nicht mehr nur bodenloses fallen. Ich hoffe er bleibt, denn ich weiß hier gibt es immer noch Abgründe, man kann immer noch tiefer fallen und immer noch mehr verlieren, aber irgendwie habe ich das Gefühl meinen Boden gefunden zu haben. Ich höre langsam damit auf verzweifelt nach irgendwelchen Strohhalmen zu greifen, die sich mir irgendwo anbieten, zumindest glaube ich das. Der letzte war wohl O.. Vielleicht kann ich mir wieder großteils selbst Halt geben und vielleicht kann ich das auch aushalten. Mich. 

Ja, ich habe gerade eine Krise und es sind offensichtlich ein paar Sicherungen in mir durchgebrannt (im Außen wie im Innen). Mein Leben setzt sich gerade gefühlt fast neu zusammen. Nicht völlig, es gibt Menschen, die bleiben, aber doch grundlegend. Und irgendwie finde ich das auch gerade nicht so schlimm, vielleicht ändert sich das auch wieder, doch im Moment ist es okay. Ich lache mich auch selbst immer wieder aus, wegen der Idee mit dem Auto und trotzdem halte ich es für eine ausgesprochen gute Idee, die ich sehr ernst meine. Ein Hilfsmittel um aus dem Überleben wieder in ein Leben zu kommen. Neues Sehnsuchtsobjekt Auto. Herrjemine! Heute habe ich meine Fahrkünste wieder aufgefrischt und vielleicht kaufe ich das alte Auto [vom Papa meiner liebsten Freundin]. Ich hoffe, das liest sich nicht ganz so verrückt oder wirr und ist doch noch einigermaßen nachvollziehbar.

Ganz liebe Grüße aus [R.], ich hoffe Sie haben schon eine erholsame Zeit [in ihrem Viertel]!

Tina

[], * Orte und Namen aus Personenschutzgründen verändert

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