Zwischen den Welten


Beitrag von Maya
⏱ Geschätzte Lesedauer: 10 Minuten
Beitragsbild von Ylanite Koppens on Pexels.com

Seit dem ich denken kann, sehnte ich mich nach Nähe, nach geistiger, seelischer, psychischer Nähe zu einem oder mehreren Menschen. Dies blieb mir in meiner Kindheit und Jugend innerhalb meiner Familie verwehrt und daher begann schon sehr früh die Suche nach Nähe – außerhalb meines familiären Lebens.

In meiner Kindheit, Jugend und meinem frühen Erwachsenenalter sehnte ich mich nach EINER Person an meiner Seite – um mit ihr durch dick und dünn zu gehen. Diesen Wunsch versuchte ich mir durch Freundschaften zu erfüllen. Freundschaften – ein heikles und leidvolles Thema für mich. Denn dieses wurde schon immer flankiert von meiner komplexen PTBS bzw. den Traumafolgestörungen.

Es fing bereits an, als ich noch sehr jung war. Im Kindergarten- und Grundschulalter. Ich spielte des Öfteren hinter unserem Wohnhaus auf dem Hof mit einem Kind, das in meinen Kindergarten ging und im gleichen Wohnkomplex lebte. Ich liebte es dort mit besagtem Kind zu spielen. Und ich konnte von der gemeinsamen Zeit eigentlich gar nicht genug bekommen. Ich fühlte mich endlich mit jemandem auf einer Wellenlänge, ernst genommen, wir interagierten wirklich und tatsächlich miteinander – dieses Kind nahm mich ernst! Doch immer war die untergründige Angst zugegen es bald zu verlieren. Ich war aus diesem Grund sehr eifersüchtig. Im Sportumkleideraum prügelte ich mich sogar mit einem anderen Kind, dass immer wieder Zeit mit „meinem befreundeten Kind“ verbrachte. Nach dem Motto: Was fällt dir ein mir meinen Herzensmenschen wegzunehmen!“ Ich fand meinen Herzensmenschen toll, ich brauchte es, um mich gut zu fühlen. Das ging so weit, dass ich dachte, wenn ich wie dieses Kind wäre, dann würde ich mich auch mit mir allein wohl fühlen. Also fing ich an, die Wesenszüge des Kindes zu kopieren.
Einmal lies mein Herzensmensch ein paar Schuhe auf dem Spielplatz liegen. Ich fand die so toll und sie waren ein Teil meines Herzensmenschen! Ich nahm sie mit und zog sie an. Ein paar Tage später gab ich sie schweren Herzens zurück. Jaaa – hier zeigten sich schon einige Nachwirkungen meiner komplexen PTBS. Niemand hat gemerkt, warum ich so sehr an diesem Kind hing und dass die Freundschaft für mich vor allem einen kompensatorischen Zweck erfüllen sollte: ich wollte ernst genommen und gesehen werden, ich wollte mich wertvoll fühlen und dachte, dass ich dies durch diese Freundschaft und die Nachahmung von Wesenszügen und materiellen Dinge auf mich übertragen könnte.
Natürlich war mir das alles damals überhaupt nicht bewusst.

Statt wirklich hinzusehen, was denn da mit mir los war, hörte ich von meiner Mutter nur immer und immer wieder: „Ja, du bist genauso wie dein Vater, der hat auch immer so viel Wert auf Freundschaften gelegt!“

Im Laufe meiner Kindheit gestalteten sich die folgenden Freundschaften zwar etwas lockerer, dennoch war ich immer auf der Suche nach EINEM Herzensmenschen, der vollkommen zu mir passen sollte. Ich war in dieser Zeit auch immer nur an Menschen wirklich interessiert, die Selbstbewusstsein, Stärke und Vertrauen ausstrahlten – ich bewunderte sie. In meiner Dunkelheit, in meinem zu Hause, gab es das nicht. Da war mein Stiefvater, der mich missachtete, misshandelte, mir ständig Angst machte und meine Mutter, die still und passiv an der Seite meines Stiefvaters lebte und alles zuließ, was mir angetan wurde.

Schon als Kind und Jugendliche wusste ich: „Um zu überleben, musst du dir Menschen oder Dinge suchen, die dich weiterbringen, dir helfen!“ Damit war niemals eine direkte Hilfe gemeint – die erhielt ich im Kindergarten-, Schul- oder Freundeskontext niemals. Ich lernte still von Ihnen. Ich versuchte ihre Lebensstrategien zu ergründen. Was gefiel Ihnen – was gab Ihnen gute Gefühle, einen Sinn? Dann ahmte ich nach, stets und ständig. Wenn sich etwas für mich nicht gut anfühlte, verwarf ich es. Viele andere Dinge übernahm ich in mein Denk- und Handlungsrepertoire. Das ging später so weit in meiner Jugend, dass ich zum Teil sehr verzweifelte Momente deshalb erlebte. Denn ich fing irgendwann an, diese Vorgehensweise zu reflektieren – „War ich nur eine Ansammlung aus Nachahmungen?“, „Wer bin ich eigentlich?“, „Gibt es überhaupt ein ICH?“ – und diese Gedanken stammten nicht aus der üblichen pubertärer Identitätsproblematik, sondern daraus, dass es mir in Kindheit und Jugend nicht möglich war ein Ich-Gefühl oder eine Ich-Identität aufzubauen. Hier habe ich z.B. etwas über die Lebensumstände in meiner Kindheit geschrieben.

Diese Probleme zeigten sich bereits in der Schule und begleiteten mich bis in die 30er Jahre hinein. Ich fühlte mich verloren, wie ein Nichts, wie ein Niemand – wenn ich nicht aktiv etwas produzierte, etwas nachahmte. Und das konnte ich gut – denn ich tat ja fast nichts anderes.

Bereits mit 14 fing ich deshalb, teilweise wahnhaft, an zu lesen. Wenn es keine Menschen in meinem Umfeld gab, die mir etwas geben konnten, musste ich mir meinen Input, wie eine Droge, woanders beschaffen. Das war Mitte, Ende der 90er Jahre. In meinem Umfeld gab es kein Internet, keine Computer, keine Handys – der Zugang zu Wissen, außerhalb des eigenen Lebensdunstes war schwierig. Ich durfte mich nicht viel draußen aufhalten und konnte aus diesem Grund auch keine Freundschaften zu anderen Dunstkreisen aufbauen, so wie es Mitschüler*innen möglich war. Also blieb mir nur die Bibliothek in meinem Stadtteil – dort durfte ich auch wirklich hingehen. Also las ich über den Sinn des Lebens, Philosophie, Biografien, Geschichtliches bis hin zu allerlei buddhistischen Werken. Das half mir. Mehr und mehr las ich auch über Psychologie und fing an, in meiner Jugend, zu verstehen, dass mein Zustand zu einem großen Teil wohl pathologisch war.

Und daneben ging das Leben weiter. Ich litt immer wieder unter Depressionen, wollte nicht mehr leben, nicht da sein. Ich klammerte mich an einige Dinge in meinem Leben, meine Kompensationsstrategien: Lernen durch Bücher, die Dunkelheit aus mir herauszeichnen, meine Großeltern, ein paar Freunde, einen Schwarm. Das hielt mich über Wasser.

Dann wurde ich, mit 16 / 17 Jahren, nach meinem Realschulabschluss zu einer Ausbildung bei der Bundeswehr gezwungen. Das verschlimmerte meinen Zustand nur noch. Und ich fing immer weiter an zu kompensieren und verdrängte meine psychischen Beeinträchtigungen. Ich konzentrierte mich jahrelang auf Äußerlichkeiten, versuchte mich ständig abzulenken. Denn wenn ich alleine war, kam meine Dunkelheit hoch. Also fuhr ich zu Freunden, nach Hause, in unterschiedlichste Städte, ging feiern. Ich suchte den Kick. Ich denke es war ein riesen Glück, dass ich niemals an Menschen geraten bin, die mir Drogen oder ähnliche schädliche Bewältigungsstrategien anboten. Denn ich glaube in meiner damaligen Lage hätte ich sie genommen, benutzt, was auch immer.
Ich hatte einfach nur Glück.

Einige Jahre hatte ich hauptsächlich mit Menschen ohne psychische Beeinträchtigungen zu tun und lebte ein Leben, als wenn ich keine hätte – auch wenn sich die ganzen Symptome immer wieder zeigten.

Ab 2002 lebte ich in Kiel, arbeitete bei der Bundeswehr in einer Verwaltung und versuchte bereits zwei Jahre dort Freundschaften aufzubauen. Aber nichts funktionierte, kein Volkshochschulkurs, kein Verein, Fitnessstudio (…). Kontakte auf meiner Arbeit waren sehr rar gesät. Ich war gerade erst 19 geworden und alle Kolleg*innen sehr viel älter als ich. Lästern stand dort auf der Tagesordnung und ich fand es furchtbar. Eine Kollegin hatte eine geistige Beeinträchtigung und eine andere Kollegin war Alkoholikerin. An diesen wurde kein gutes Haar gelassen. Also hütete ich mich davor, jemandem von meinen Problemen zu erzählen – bis es irgendwann einfach nicht mehr ging. Auch wenn ich viel in Norddeutschland unterwegs war, vereinsamte ich immer mehr, litt unter starken depressiven Verstimmungen und mehr und mehr unter Angstzuständen, Panikattacken und Halluzinationen. Ich kam einfach nicht dagegen an. Meine psychische Beeinträchtigung ließ sich irgendwann nicht mehr wegkompensieren, nicht mehr verstecken.

2004 war ich dann das erste Mal für Monate in einer psychiatrischen Klinik.

Ich merkte, wie gut es mir tat mit anderen Betroffenen über psychischen Probleme zu reden. Ich erkannte, dass es viele andere Menschen mit psychisches Beeinträchtigungen gab! Meine Freundschaften bauten sich dann in dieser Richtung auf. Dennoch wollte ich nicht stehen bleiben. Ich las und las und las. Wollte bei der Bundeswehr aufhören und mein Abitur nachholen, um endlich das zu machen, worauf ich wirklich Bock hatte! Aber mit der psychischen Erkrankung, mittlerweile hatte ich einen Grad der Behinderung von 50, war das nicht so einfach zu machen. Eigentlich gar nicht. Erst als ich meinen damaligen Freund kennen lernte, wir heirateten und dieser mir den Rücken stärkte, gab ich meine Arbeit bei der Bundeswehr auf und fing Mitte 20 an einer Ganztagsschule mit dem Abitur an. Als wir uns trennten, sich mein Leben wieder grundlegend änderte, veränderte sich auch wieder meine zu diesem Zeitpunkt einigermaßen stabile psychische Gesundheit. Ich wurde wieder krank. Musste mit der Schule aufhören. Dann brach ich alle Zelte in dieser Stadt ab.

Ich fing an auf Segelschiffen zu arbeiten. Ein Job, bei dem keine Langeweile aufkam. Eine aufregende und unbeständiger Arbeit. Das passte sehr gut zu meiner Umgangsweise mit den Traumafolgen und sollte saisonal über fünf Jahre gehen. Während dieser Jahre machte ich das Abendgymnasium, freundete mich immer mehr mit meiner Erkrankung an, machte mehrere Jahre eine tiefenpsychologische Therapie.

Bereits in diesen Lebensabschnitten waren meine Freundschaften geprägt von Menschen, die so gut wie alles einigermaßen gut bis sehr gut ohne psychische Beeinträchtigungen in ihren Leben hinbekamen, auf der einen Seite – und Menschen, die unter psychischen Erkrankungen und Behinderungen litten, auf der anderen Seite.

Es waren zwei Welten geboren, die unterschiedlicher nicht sein konnten.
Zwei Welten, zwischen denen ich immer wieder hin und her glitt.

Die einen bekamen Ausbildung, Studium, Arbeit, Partnerschaften und Freundschaften so gut wie immer geregelt. Natürlich hatten auch diese ihre Probleme – dennoch erschienen diese mir teilweise lächerlich klein, wenn ich meine oder die Probleme von anderen psychisch Beeinträchtigten im Vergleich betrachtete.

Damit meine ich nicht die normalen Anstrengungen des Lebens, müde sein, mal fertig in der Ecke liegen, vorübergehende Geldprobleme haben usw. Ich meine ein Leben ohne Depressionen, den immer wiederkehrenden Wunsch nicht da sein zu wollen bis hin zu Suizidgedanken, dem Gefühl des Getrenntsein von anderen Menschen, dem immer wiederkehrenden Scheitern an eigenen und fremden Erwartungen durch z.B. fehlende Energie oder dem hiervor genannten, den unerträglichen inneren Schmerzen und dem Druck, den manche Betroffene nur durch selbstverletzendes Verhalten aushalten können usw. usf.

Und dennoch – es tat mir auch gut mit diesen nicht psychisch beeinträchtigten Menschen zu sprechen, mit ihnen Zeit zu verbringen. Ich nahm in gewisser Weise an einem „normalen“ unbeschwerten Leben teil. Aber es tat auch oft weh. Wie einfach psychisch ausgeglichenen Menschen viele Dinge fallen, die mir und anderen Betroffenen so viel abverlangen. Ausbildung, Studium – schwuppdiwupp, nebenbei noch arbeiten und feiern gehen, shoppen, verreisen, denn Geld war ja durch die regelmäßige Arbeit da. Immer mehr kristallisierte sich heraus, dass ich nicht wirklich zu dieser Welt dazugehörte, auch wenn ich es unbedingt wollte. Ich fühlte es. Ich musste gar nicht darüber nachdenken. Und doch verblieb ich viel zu häufig im Privaten in Kontakt mit nicht beeinträchtigten Menschen.

Sehr schlimm wurde und wird es, wenn deren Privilegien deutlich zum Ausdruck kommen und sie sich mit mir auf eine Ebene stellen.

Im letzten Jahrzehnt kamen dann auch immer wieder Bemerkungen bzgl. meiner Lebensweise: Warum studierst du denn immer noch? Bist du nicht zu alt zum Studieren? Wann fängst du endlich eine richtige Arbeit an? Warum arbeitest Du nicht einfach neben dem Studium?
Warum dies alles so war, kannst Du in der Reihe #Ursachen & Folgen der kPTBS nachlesen.
Auch Erklärungsversuche halfen und helfen nicht viel, denn auch danach hörte ich die Fragen, wie auf einer kaputten Schallplatte, immer und immer wieder. Mein Vater z.B. fragte mich immer wieder was ich studiere. Ich erzählte es ihm bestimmt an die 100 Male. Und doch wusste er bis zu meinem Kontaktabbruch nicht was ich mache. Die Menschen in meiner Familie lächelten eher verschämt und schauten weg, wenn es um dieses Thema ging. Meine Familie fragte irgendwann gar nicht mehr nach, wie es mir wirklich geht, da ihnen die Antworten unangenehm waren. Sie waren sichtlich enttäuscht, dass ich immer noch nicht in einem „normalen“ und psychisch gesundem Erwachsenenleben mit Geld verdienen, Urlaubsplanung, materiellen Interessen usw. angekommen war. Eine frühere Freundin sagte sogar, sie glaube nicht an psychische Beeinträchtigungen, nur an Menschen, die nicht gut mit sich selbst umgehen (können). Eine andere Freundin sagte, dass jeder Mensch einen freien Willen habe und sich für oder gegen einen Selbstmord entscheiden könne. Es gab einen riesigen Streit, da sie nicht betroffen war und diese Lebenswelt nicht verstehen konnte. All die Diskurse kamen immer wieder so rüber, als wenn ein Mensch sich auch für oder gegen eine psychische Erkrankung entscheiden könne. Jede Erläuterung dazu war sinnlos. Obwohl in meiner Familie und in meinem Freundeskreis bekannt war und ist, dass ich schwerbehindert bin aufgrund langjähriger psychischer Beeinträchtigungen, kamen immer wieder solche Fragen, wie z.B.: Wieso machst du eine Therapie? / Wann ist es denn mal gut? / Kommst du mit in den (2000 Euro) teuren Urlaub? (bei ALGII-Bezug) / Was machst du denn mit deinem ganzen Geld? (bei Ablehnung eines Shoppingtages)
Oder Aussagen, wie z.B.: Man muss es halt nur genug wollen. / Ja, du bist schon schwierig bzw. speziell! – einfach nur weil ich eine psychische Beeinträchtigung habe und nicht alles mitmachen kann.

Im Übrigen, hat mich fast kein bekannter bzw. befreundeter Mensch ohne psychische Beeinträchtigungen zu diesem Blog befragt oder davon gesprochen etwas gelesen zu haben – obwohl ich davon erzählt habe. Kein Interesse.

In den 30er Jahren traten die Unterschiede immer mehr zu Tage. Die meisten Menschen meines Alters, ohne psychische Beeinträchtigung, kamen vollends in ihrem Job / in guten bis sehr guten Positionen ihres Jobs an. Sie verdienten genug Geld und machten vermehrt lieber etwas mit Menschen, die einen ähnlichen Lebensstandard und Interessen vorweisen konnten: Feiern, Trinken, Urlaub machen, Reisen, Opern und Festivals, scheinbar unendliche Gespräche zu eigenen und fremden Erscheinungsbildern, Shoppen, langjährigen Partnerschaften, Kindern usw. Dann war ich schnell raus.

Also wendete ich mich immer wieder den Menschen zu, die ebenfalls unter psychischen Beeinträchtigungen litten. Mittlerweile war ich zwei weitere Male in Kliniken gewesen und hatte mir einen richtigen Freundeskreis mit Menschen mit psychischen Erkrankungen aufgebaut.

Immer noch lernte ich ständig von meinen Mitmenschen – von denen mit und ohne psychische Beeinträchtigungen. Ich versuchte sie zu verstehen, was sie antreibt, was ihre Ursachen für ein zufriedenes Leben oder Beeinträchtigungen waren.

Menschen wendeten sich mir gerne zu, denn ich war an ihnen interessiert, war neugierig ihres Lebens, wollte alles verstehen und ergründen. Eigentlich wollte und will ich immer die ganze Welt verstehen.

Heute weiß ich, dass auch dies in dem großen Maße zu den Traumafolgestörungen gehört. Ständig wachsam sein, ständig alles verstehen müssen, um auch ja auf alles vorbereitet zu sein, handlungsfähig zu sein. Ein Leben auf dem Wachturm. Der andere Teil ist einfach Neugier und Wissensdurst.

Doch mit den Jahren, mehreren Therapien, unterschiedlichsten Arbeitsstellen, dem Kennenlernen vieler, vieler Menschen, dem Besuch des Abendgymnasiums und dem Drang des Lesens und der Weiterentwicklung (raus aus dem dunkeln inneren Loch), fiel es mir immer schwerer mit einigen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen befreundet zu sein. Das lag vor allem daran, dass bei einigen keinerlei Willen zu sehen war, sich in eine Richtung zu entwickeln, in der das Leid abgebaut werden wollte. Mal überspitzt gesagt, auch wenn ich ein psychisch beeinträchtigter und dahingehend verständnisvoller Mensch war und bin, war es dennoch sehr mühselig, sich immer wieder über eine lange Zeit, oft mehrere Jahre lang, anzuhören, wie furchtbar alles ist und warum sich denn nicht endlich irgendwas ändert im Leben. Im gleichen Atemzug wurden aber Therapien abgebrochen, gar nicht angefangen, die eigene Krankheit romantisiert, manchmal geleugnet und jede Form von Hilfsmöglichkeit abgeschmettert – bei einigen zeigte sich ein Festhalten am eigenen Leid. Mit all dem, was ich mir über die Jahre angeeignet hatte und mit den gemachten Erfahrungen, konnte mein erwachsenes Ich zwar verstehen, warum Menschen dies tun – mein inneres Kind stand dem jedoch irgendwann nur noch erschöpft und traurig gegenüber. Dieser Teil von mir konnte dies nicht verstehen, hätte niemals in dem Leid verweilen wollen. Es war zu schlimm, zu schmerzhaft, als dass ich es mein Leben lang hätte aushalten können. Mein erwachsenes, erfahreneres Ich weiß um die Sicherheit, die einem die eigene Dunkelheit, das eigene Leid geben kann – damit kennen sich Betroffene aus, sie wissen, wie sie damit (die meiste Zeit) umgehen und leben können. Es schafft zum anderen auch eine Art Identität: ich kann nichts dafür; ich bin so, weil ich halt krank bin. Dazu gehörte ein Wegschieben jeglicher Verantwortung für sich selbst und andere (hier habe ich schon mal etwas zu sozialer Verantwortung geschrieben). Auch hier ist es, wie in allen Lebenslagen, für fast alle Menschen: Veränderungen sind anstrengend. Und manche Menschen wollen oder können diese Anstrengungen nicht auf sich nehmen. Oder sie haben keinen geeigneten Zugang zu Hilfsmöglichkeiten oder wurden zu oft enttäuscht in der psychiatrisch-medizinischen Landschaft.

Natürlich sind alle Leidensgeschichten individuell zu betrachten und für viele Schicksale wird es immer nur eine Minimierung von Beeinträchtigungen sein, da eine gänzliche Heilung nicht möglich ist – das ist mir vollkommen bewusst und auch ich bin höchstwahrscheinlich davon betroffen. Es ist ein schmaler Grat zwischen – sich aufgrund der eigenen Erkrankung nicht zu einer größeren Beschwerdefreiheit entwickeln können und – sich nicht zu einer größeren Beschwerdefreiheit entwickeln wollen, weil es so einfach bequemer ist. Hierbei können die Grenzen auch fließend sein. Und ich kann mein hier Geschriebenes nur auf die Menschen beziehen, die ich über die Jahre kennengelernt habe und zu denen ich dann irgendwann den Kontakt abbrechen musste.

Gerade heute musste ich eine Freundschaft beenden, weil ich es nach langer, langer Zeit nicht mehr ausgehalten habe. Das heißt, ich halte es nicht mehr aus der Punchball zu sein – ein Mensch, auf dem man einfach das ganze Leid unreflektiert abladen kann. Dieser Mensch mit psychischer Beeinträchtigung ist z.B. der Meinung absolut egoistisch handeln zu können, immer nur von sich zu reden, die eigenen Trauma aus der Herkunftsfamilie auf mich zu übertragen usw. Und auch nach mehreren Ansprachen diesbezüglich, lag die Verteidigung und Rechtfertigung darin, dass dieser Mensch bis vor ein paar Jahren immer nur für andere da gewesen ist. Vom einen Extrem in das Andere.
Ich bin der Meinung, dass man sich nicht wie ein absolut unsoziales A*** verhalten muss – auch wenn man schlimme Dinge erlebt hat.

Aber sowas erlebe ich nicht nur mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Ein ebenfalls unschönes Erlebnis habe ich vor kurzem hier beschrieben – mit Menschen ohne psychische Beeinträchtigungen.

Es gibt also immer wieder zwischenmenschliche Kontakte und Erlebnisse, durch die ich mich sowohl in der Welt der Bekanntschaften/Freundschaften ohne psychische Beeinträchtigungen, als auch in der Welt der Bekanntschaften/Freundschaften mit psychischen Beeinträchtigungen nicht mehr aufgehoben bzw. wohl fühle.

Und nun befinde ich mich symbolisch gesprochen immer irgendwo zwischen diesen beiden Welten – fühle mich von beiden Welten angezogen und entfernt.

Von Menschen ohne (psychische) Beeinträchtigungen (und meistens auch ohne Verständnis) und ihrer Lebenswelt fühle ich mich immer wieder sehr entfernt. Kontakt geht für mich klar, wenn es sich um vorübergehende Lern- oder Arbeitsmeetings und einen netten Plausch nebenbei handelt, die Interaktionen zeitlich begrenzt sind und nicht in meinen privaten Wohlfühlbereich hineinragen. Und genauso sieht es auch mit Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen aus, die diese fast schon wie eine gewollte Identität vor sich hertragen. Die der Meinung sind, es gibt auf keinen Fall eine Minimierung von Leid / Beeinträchtigungen und darüber auch stets und ständig reden – statt über ganz persönliche und individuelle Ideen / Möglichkeiten für eine Beschwerdeminderung.

Ich weiß, dass ich mich mit diesem Artikel auf sehr dünnem Eis bewege. Keine meiner hier getätigten Aussagen ist plakativ und intolerant gemeint – ich rede ausschließlich von meinem ganz persönlichen Toleranzfeld der Aushaltbarkeit von Menschen mit und ohne psychische Beeinträchtigungen. Ich weiß, ich akzeptiere, ich toleriere die Lebenswelten aller Menschen mit und ohne psychische Beeinträchtigungen – dennoch kann ich manches im Bereich meines privaten Seins mehr und manches weniger aushalten.

Dies ist jeden Tag ein Drahtseilakt und erschwert mir soziale Interaktionen immer wieder. Zum einen sehne ich mich nach einem klaren, weltlichen Austausch, Möglichkeiten „normal“ an weltlichen Geschehnissen zu partizipieren (teilzunehmen), z.B. Arbeit und kulturellen Veranstaltungen, zum anderen tut mir der Austausch mit ebenfalls Betroffenen gut. Sich nicht immer in allem erklären zu müssen, sich mit gleichfalls weniger privilegierten Menschen unter „seinesgleichen“ zu fühlen.

Einer der größten privaten Fortschritte in den letzten Jahren war, dass ich mich nicht mehr über Freundschaften identifiziere, ich weiß heute größtenteils wer ich bin und was ich tun möchte. Ich bleibe nicht mehr mit einem Menschen befreundet, wenn dieser nicht zu mir und meinem Leben passt. Im gleichen Atemzug reflektiere ich aber auch meine Abhängigkeiten, also Ressourcen, auf die ich angewiesen bin.
Ich fühle mich nicht mehr leer und kann sehr gut mit mir allein sein. Ich brauche keinen Menschen für eine Liebesbeziehung oder Freundschaft, nur um mich gut zu fühlen.
Ich fühle mich mit mir selbst sehr gut.
Und das war ja auch immer das Ziel der letzten ca. 30 Jahren.  

Und doch werde ich durch meine Geschichte immer beide Welten verstehen, ein Teil von beiden Welten bleiben, denn in beiden habe ich auch wundervolle Dinge erlebt – dennoch versuche ich im Moment, mir (dank meiner Traumatherapie) meine ganz eigene Welt dazwischen aufzubauen.  

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. tina von traumaleben sagt:

    Sehr berührender Text! Dieses zwischen den Welten sitzen verstehe ich sehr sehr gut, danke dass du das ansprichst. Ich bin da auch immer sehr hin und her gerissen, sitze irgendwo dazwischen und schaue abwechselnd mal hier hin mal dort hin, bis mir beinahe schwindlig wird und ich noch immer keinen Platz gefunden habe 😒😆. Deshalb versuch ich nun auch langsam immer mehr ich selbst zu sein (das kommt nur leider nicht immer so gut an, wenn man auf hört sich anzupassen oder sich nicht mehr allem zu fügen). Ach ja und auch beim Thema Freundschaft hast du grad einen sehr wunden Punkt getroffen…

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